Montag, April 11, 2011

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das beinhaltet das Bedürfnis allein zu sein.


Der Mensch ist ein soziales Wesen.
Das beinhaltet nicht nur, Gemeinschaft erleben zu wollen, sondern auch die an­dere Seite dazu gehört: das Bedürfnis allein zu sein.
Nicht alles und jedes kann im Beisein von anderen gelebt werden, jeder Mensch braucht zwischendurch Zeit und Raum für sich selber, sei es um nachzudenken, um etwas auszuprobieren, um bestimmte Erfahrungen zu machen, oder um sich über etwas klar zu werden - die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Raum und Zeit für sich allein zu haben, ist unentbehr­lich, auch in einer Partnerschaft, und sei sie noch so innig und liebevoll. Oft wird versäumt, das offen anzusprechen und sich gegenseitig diesen Raum zu gewähren, sei es aus Angst, den andern zu kränken, oder aufgrund der un­realistischen Vorstellung, Partnerschaft bedeute absolute Zweisamkeit. Doch unerfüllte Bedürfnisse nach Allein­sein machen - paradoxerweise - einsam und entfremden die Partner voneinander.

Menschen, die allein leben, kommen im Alter schlechter zurecht als solche, die mit anderen zusammenleben - be­haupten die Experten. Ich wage das zu bezweifeln. Es hat wohl beides Vorzüge und Nachteile, und ob jemand sich mit der einen oder mit der anderen Lebensform besser zu­rechtfindet, hängt von vielen Faktoren ab: von der Lebens­geschichte, von individuellen Vorerfahrungen, persönli­chen Wesenszügen, Prägungen und Präferenzen, um nur einige zu nennen.

Allein leben ist nicht die schlechteste Lebens­form, sie hat - wie alles im Leben - ihre guten und ihre schlechten Seiten.
Ich zum Beispiel lebe gern allein. Ausgesucht habe ich es mir nicht. Es hat sich so ergeben - eine Trennung, ein frü­her Tod -, ich musste mich früh daran gewöhnen. Am An­fang fiel es mir sehr schwer, doch mit der Zeit merkte ich zu meinem Erstaunen, dass diese Lebensform auch manches für sich hat.
 



Eine banale Erfahrung, aber doch ein »Schlüsselmoment« ganz zu Anfang, als ich noch damit haderte, allein leben zu müssen: Ziemlich niedergeschlagen saß ich beim Frühstück, griff lustlos nach der Zeitung, um mich abzulenken - und merkte plötzlich, wie gemütlich es ist, beim Frühstück in Ruhe die Zeitung zu lesen. Das wäre mir früher nicht im Traum eingefallen, obwohl beim Frühstück eigentlich niemand gesprächig gestimmt war. Auf einmal überkam mich inmitten meiner traurigen Grund­stimmung ein Glücksgefühl, das diesem nichtigen Anlass über­haupt nicht angemessen war. Doch er hat mir die Augen geöffnet.


Alte Bäume wachsen noch. Neue Erfahrungen in späten Lebensjahren.

Nach: Marlis Pörtner, *1933:Alte Bäume wachsen noch. Neue Erfahrungen in späten Lebensjahren.Klett-Cotta 2010. 

Allmählich dämmerte es mir: „Später“ – das war jetzt.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Jetzt konnte ich die Veränderungen noch selber in die hand nehmen und nach meinen Wünschen gestalten. Diese Erkenntnis war ein Schock.


Neulich beim Zähneputzen kam mir auf einmal ein Ge­dicht in den Sinn, das ich vor vielen Jahren geschrieben habe:

Einen Weg gehen
ankommen
und merken
der Aufbruch
beginnt
erst jetzt

Das trifft genau, worum es in diesem Lebensabschnitt geht: sich nicht an irgendetwas festklammern, nicht meinen, es sei jetzt etwas geschafft, und das werde so bleiben - vielleicht wird es das und vielleicht nicht.

Die bereits an anderer Stelle zitierte Formulierung des Psychoanalytikers Erik H. Erikson »Sein, was man gewor­den ist« meint auch: nicht an der Vergangenheit kleben, sondern jetzt leben.
Man kann es auch anders sehen: Veränderungen fordern uns heraus, beleben uns, rufen schlummernde Kräfte wach und erweitern den Horizont. Veränderungen, selbst unlieb­same, bringen uns weiter - wenn wir bereit sind, uns mit wachen Sinnen auf sie einzulassen.

Für alles, was er im Alter verliere, gewinne er etwas hin­zu,
erklärte kürzlich der siebzigjährige Regisseur Peter Stein in einem Radio-Interview.
Beschwerden und Beeinträchtigungen des Alters sind nur die eine Seite der Medaille. Wenn wir unseren Blickwinkel ändern, werden wir auch ihre andere Seite. Den Blickwinkel ändern heißt nicht: wegschauen, sondern im Gegenteil: genauer hinschauen, um verschiedene Seiten altersbedingter Veränderungen wahrzunehmen: die schmerzlichen und die hoffnungsvollen. Dann erkennen wir, dass dieser Lebens­abschnitt nicht nur Verlust mit sich bringt, sondern auch überraschende Entwicklungsmöglichkeiten bereithält. Den Blickwinkel ändern heißt nicht, die Beschwernisse und Un­annehmlichkeiten des Alters und die damit verbundenen Gefühle verdrängen, sondern ihnen ins Auge sehen, sie an­nehmen und versuchen, so gut wie möglich mit ihnen zu leben.