Mittwoch, Dezember 21, 2016

Pfründe. Warum die CSU und Horst Seehofer die AfD nicht mögen, obwohl sie alle dasselbe sagen

Screenshot ZDF
CSU-Chef Horst Seehofer musste beim ZDF auf eine ziemlich unangenehme Frage antworten. Moderator Claus Kleber wollte wissen, wo denn eigentlich die Unterschiede zwischen CSU-Positionen und dem Programm der rechtspopulistischen AfD seien. Wenn er das gerade beschlossene CSU-Papier und das AfD-Programm neben einander lege, sehe er „faktisch keine Unterschiede mehr“, so Kleber.
Seehofer legte daraufhin nah, die AfD habe bei seiner Partei abgeschrieben.
Quelle
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Eigentlich spielt es keine Rolle, wer nun von wem abgeschrieben hat:
Die von beiden Parteien unbestrittene Tatsache ist offenbar: Texte und Programm gleichen sich. Sie sind Gesinnungs-GenosssInnen. - Und manchmal versucht Seehofer die AfD rhetorisch zu übertrumpfen.

Warum der Streit? Warum übertrumpfen müssen? Es geht um die Pfründe.
 Stellt euch vor, sagte neulich ein CSU-Abgeordneter sinngemäß - (ich stand gerade unter der Dusche und bekam daher den Namen im Interview des Deutschlandfunks nicht mit) - der ausländerfeindliche, rassistische, ultrarechte Teil unserer Wählerschaft würde statt der CSU die AfD wählen: Das würde der CSU so-und-so-viel gut bezahlte Abgeordneten-Jobs im Bayerischen Landtag und im Bundestag kosten.

Auch deshalb
soll und sollte es in Deutschland rechts von der CSU keine Partei in Deutschland geben.
Franz-Josef Strauß (1983?): „Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben.“

Es geht um Geld und Pfründe - und nicht um die Moral.
"Erst kommt der BMW und dann die Moral" - wie Bert Brecht anno 1928 so ähnlich schon in der Dreigroschen-Oper  singen ließ.

Quelle: taz 21.12.2016
Von links nach rechts: AfD, Kreuzritter und rechts vielleicht die CSU?

Wenn ein Lastwagen durch ein Unglück in einen Weihnachtsmarkt führe ... Gedanken-Erforschung

Nein, so war es wohl nicht.
Nur eine Gedanken-Erforschung: 

Nehmen wir an: 
Jemand, nehmen wir an dein Alt-Deutscher, kapert aus Habgier einen beladenen LKW-Truck in einer polnischen Spedition in der deutschen Hauptsadt. Der polnische Fahrer wird mit einer Schusswaffe bedroht und auf dem Beifahrersitz in Schach gehalten. -

Auf dem Weg durch das Stadtzentrum sieht der polnische Fahrer eine Chance, auf sich aufmerksam zu machen. Es kommt zu einem Gerangel im Führerhaus, der Räuber wird zum Mörder, erschießt den Polen, der LKW gerät aus der Spur und rast in einen Weihnachtsmarkt, der Räuber steuert auf die Haupt-Straße zurück, aber es ist zu spät: Zwölf Tote und viele Verletzte. Er ergreift die Flucht.

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  • Welcher Gedanke würde MIR zu allererst einfallen?
  • Welcher politische Kommentar würde MIR zu allererst einfallen?
  • Welchen Kommentar würde ich von welcher politischen Partei, von welcher Politikerin oder welchem Politiker erwarten?
  • Wie könnte dieser Vorfall politisch instrumentalisiert werden und von wem? - Wer hätte sozuzagen nur darauf gewartet, mit solch einem Unglück sein Süppchen zu kochen? Profit daraus zu schlagen?
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Was zu dem Anschlag an der Gedaächtniskirche in Berlin gesagt wurde:
  • "Das ist ein schlimmer Abend für Berlin und unser Land"
  • "Wann schlägt der deutsche Rechtsstaat zurück? Wann hört diese verfluchte Heuchelei endlich auf? Es sind Merkels Tote!"
  •  „Wir müssen konstatieren: Wir sind in einem Kriegszustand, obwohl das einige Leute, die immer nur das Gute sehen, nicht sehen möchten“
  • „Wir werden, wo wir es für erforderlich halten, auch mit schwerem Gerät antreten. Das heißt Langwaffen, Kurzwaffen, Maschinenpistolen“
  • „Es ist mal wieder ein Anschlag auf unser aller Freiheit, unser Leben - und es hätte tatsächlich auch jeden treffen können“
  • „Dieses Mal wird das Brandenburger Tor in unseren eigenen Farben angestrahlt werden“
  •  „Wir werden uns mit all zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einsetzen, dass die böse Saat, Panik, Hass und Zwietracht zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und Religionen zu stiften, niemals aufgeht“ (Zentralrat der Muslime)
  • „Das Milieu, in dem solche Taten gedeihen können, ist in den vergangenen anderthalb Jahren fahrlässig und systematisch importiert worden“
  • "Merkel muss weg"
  • "Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren" 
  • "Diejenigen, die unsere liberale und offene Gesellschaft spalten und den Rechtsstaat beschädigen wollen, werden versuchen, den Anschlag zu instrumentalisieren. Sie versuchen es jetzt schon. Islamisten und Rechtsextreme kochen dabei übrigens dieselbe Suppe. Sie versuchen, aus Angst Profit zu schlagen"
  • Man könnte auch Angst vor der Christianisierung des Morgenlandes haben

Sonntag, Dezember 11, 2016

postfaktisch. Zahlen und Fakten sind echt langweilig. Von Freiburg, Flüchtlingen, Framing und dem Stern zu Bethlehem

Jaja, Zahlen sind echt ermüdend und langweilig.

Wenn ich - zum Beispiel - sonntagmorgens gemütlich im Sessel sitzend,
mit einer Tasse Kaffee, die Zeitung aufschlage und zum xten Male lese, dass gerade 60- oder 63-Millionen Menschen auf der Welt auf der Flucht sind, dann blättere ich um und schaue nach  interessanterer Morgenlektüre.

Wenn ich dann, in der Weihnachtszeit zum Beispiel, 
- auch zum xten Male - die Geschichte höre, wie Maria und Joseph mit ihrem Jesuskind anlässlich einer Volkszählung im römischen Imperium in Palästina in einem Stall übernachten - und kurz darauf von Bethlehem in Palästina nach Ägypten fliehen mussten, weil der örtliche Machthaber Herodes, alle neugeborenen Kinder umbringen wollte - dann, also dann komme ich schon etwas mehr ins Nachdenken. -
Obwohl das ja nur 1 (ein) Ehepaar war und nur 1 (ein) Baby. - Ja gut, es war ein besonderes Baby, so wie Baby Buddha oder Baby Cäsar oder Baby Alexander der Große oder Baby Clinton oder Baby Obama vielleicht. Oder Baby Trump? Oder Baby Mohammed?. - Deshalb erzählt man noch heute davon.

Manche sagen auch: Das Jesus-Baby war besonderer als alle anderen Babies zusammen. - (Aber diese Einschätzung würde ich jetzt nicht unbedingt teilen wollen. Und sowieso: Man weiß das ja auch immer erst hinterher, dass es ein besonderes Baby war. Also falls es nicht als Baby schon einem Mord oder einer Fassbombe zum Opfer fiel.)

Und ob die Fakten gut recherchiert waren? Man hat diese Geschichte nun seit Jahrhunderten nach-recherchiert. Und einige Unstimmigkeiten gibt es schon dabei. Aber das ist hier jetzt nicht das Thema. Es geht ums Postfaktische. Und ums Framing.

Verein und Broschüre


Wenn jetzt aber 1 (einer)  von diesen unbekannten ganz normalen 60-Millionen,
also ich meine, jetzt gerade, wo ich von meinem roten Lieblingssessel mit der Tasse Kaffe aufgestanden bin und es draußen arschkalt ist und ungemütlich - und es außerdem noch ein bisschen regnet statt schön zu schneien -
wenn also jetzt so ein nordafrikanisch aussehender 17-Jähriger von was-weiß-ich-woher bei mir klingeln würde und sagen, er sei ein in Syrien ausgebombter unbegleiteter Flüchtling und  wisse nicht ... -
Na. Dann ist die Sache mit den 60-Millionen plötzlich gar nicht mehr ermüdend langweilig. - Rein theoretisch hätte ja auch jeder von den 1 Millionen, die 2015 nach Deutschland kamen, sich einfach 1 Haustürklingel aussuchen und dann dort klingeln können. Vielleicht alle auf einmal, alle zur gleichen Zeit, an der einen Haustürklingel, die er - oder sie - sich ausgesucht hat. -
Das wäre dann ziemlich faktisch. Also, dann ist mir vielleicht doch lieber, die bleiben alle in Griechenland, oder besser noch in Syrien und lassen mich in Ruhe meine Zeitung lesen? Auch wenn meine Zeitung manchmal langweilige Sachen schreibt, die mich nichts angehen; dann kan ich ja umblättern.

Man nennt es wohl neudeutsch "Framing", 
wenn man die Zahlen und Fakten - auch die kleinen - in eine Geschichte einbettet, in eine Erzählung, so wie die mit Maria und Josef und dem Jesuskind, dem Stern zu Bethlehem, den Heiligen Drei Königen und so.  - Auch wenn diese Geschichte vielleicht postfaktisch ist. Legende. Mythos. Sie wirkt mehr als Zahlen und wenn sie - die Zahlen - noch so groß wären. Je größer sie sind, um so weniger kann ich sie mir sowieso vorstellen.

Und wie nennt man das,
wenn einer an der Tür klingelt? Naja, kommt ja zum Glück nicht vor.Vielleicht sollte ich morgen einen Aufkleber kaufen und an die Tür kleben: "Betteln und Hausieren" verboten. Aber ob es die auch in mehrsprachig gibt? Also zumindest in Englisch sollte es auch noch sein. Ich denke: arabisch und persisch wäre vielleicht auch nicht schlecht? Oder was spricht man da so? 

Ach ja,
als dieses im Nahen Osten gerettete Jesuskind, das ich oben erwähnte, älter wurde und so an die 30 Jahre als war ungefähr, da hat er selber auch Reframing gemacht. Also er hat eine Geschichte erzählt  - statt Zahlen und Fakten vorzutragen - die am Ende aller Tage spielt. In dieser Geschichte kommt, also am Ende aller Tage, am Jüngsten Tag, "der Menschensohn in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander trennen, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet."
Michael Wohlgemuth, um 1500 n.Chr.

Also ich will das jetzt nicht alles nacherzählen, Sie können es ja selber nachlesen. - Auf jeden Fall müssen eine ganze Menge Menschen, die "Böcke", am Schluss in die Hölle: "Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!" (sagt "der Menschensohn" zu ihnen). Die wundern sich zwar darüber, dass sie verflucht sind und viele andere nicht. Aber die, die nicht in die Hölle müssen, wissen erst auch nicht genau, warum das jetzt so ist. Der "Menschensohn" in der Geschichte erklärt es ihnen dann, aber erst ziemlich am Schluss:
"Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Und Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und viele werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben."

Nun Gut, ist ja nur eine Geschichte.
Keine Fakten, keine Zahlen. Postfaktisch halt, "Post-Truth" vielleicht auch noch.
Wer "der Menschensohn" nun sein soll, weiß man postfaktisch auch nicht so genau. Manche meinen, das erwachsene Jesuskind habe sich selber damit gemeint. Andere sagen: Nein, nein, er meinte Gott wird sich al Richter auf den Thron setzen. Wieder andere sagen: Das ist doch ungefähr dasselbe, Jesus war doch Gottes Sohn. - Nun ja: JedeR kann ja glauben was er/sie will. Denn:Noch leben wir ja in einer liberalen und pluralen Demokratie. Freedom und Democracy haben wir ja schließlich hier in Deutschland. (Deshalb müssen wir ja auch aktuell nicht fliehen und können zuhause im Sessel sitzen und lesen.)

Was ich aber trotzdem ganz tröstlich finde an diesem Framing:
Der Menschensohn sagt: "Was ihr für EINEN" ... getan habt. Der Satz des Jesuskindes ist zwar politisch nicht korrekt, denn es/er hätte sagen sollen: "Was ihr für einen oder eine getan habt ...". - Aber bemerkenswert er ist: EIN Einziger? Das würde man ja eventuell im Notfall noch irgenwie irgendwas hinkriegen. 1 statt 60.000.000. - Im Notfall!

Broschüre als pdf
Oder auch:
Quelle

Dienstag, November 22, 2016

Islam - Frauen - Verschleierung - Zentralasien

Zentralasien war schon immer eine umkämpfte Region. 

Quelle
Heute, 2016, hört sich das z.B. so an: 

Quelle
»Claudia Haydts Vortrag „Konfrontation(en) in Osteuropa“ ließ vermuten, es gehe um den Ukraine-Konflikt. Doch die Soziologin, die Mitglied im Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) ist, berichtete auf dem IMI-Kongress am Wochenende [19./20. November 2016] über die Situation in der früheren Sowjetrepublik Moldawien, wo ebenfalls unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen.«
"Die Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) wurde 1996 von mehreren Personen aus dem linksalternativen Spektrum der Neuen sozialen Bewegungen, insbesondere der Friedensbewegung. Ziel ist es mit eigenen Analysen und Informationen einen Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten. Die IMI versteht sich als Mittlerin zwischen der Sozialen- und Friedensbewegung und der wissenschaftlichen Bearbeitung von Konflikten und Konfliktkonstellationen. Die IMI will Information für alle Akteure der Gesellschaft bereitstellen sowohl für die politische als auch für die pädagogische Arbeit." [wikipedia]

»Seit den 1990er Jahren bestehe ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Moldawien, erläuterte die Referentin vor über 100 Interessierten. Das Land sei allerdings seit einem Bürgerkrieg in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gespalten:
Quelle
Der westliche Teil hat enge historische Beziehungen zu Rumänien und ist eher EU-orientiert, das östliche Transnistrien ist de facto eine unabhängige Region und befindet sich unter russischem Einfluss – politisch wie militärisch.

Die EU brauche die Republik Moldau, wie das Land offiziell genannt wird, „zur vorgelagerten Grenzsicherung“. Im Zuge einer gemeinsamen Grenzschutzmission würden „gigantische Grenzanlagen“ gebaut.

Dem Land komme die Aufgabe eines „Türstehers“ zu, der die EU-Außengrenze sichern soll. Seit 2014 gibt es ein Assoziierungsabkommen der EU mit Moldawien. Das Abkommen diene dazu, eine „neoliberale“ Wirtschaftsordnung durchzusetzen und die Integration Moldawiens in die EU und in die Nato vorzubereiten. [...] Das Land ist mithin „Teil der EU-Militärmacht, ohne Teil der EU zu sein“, sagte Haydt. So seien moldawischeSoldaten an der Trainingsmission der EU für die Truppen Malis beteiligt.«

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Anfang des 20. Jahrhunderts war Zentralasien noch in der Hand Englands und Frankreichs, doch die Zeit von "Britannia rules the world" neigte sich dem Ende entgegen.

Quelle: Peter Frankopan, Licht aus dem Osten, 1. Auflage Oktober 2016, Sete 424

Russland versuchte sich nach Süden auszudehen, und England sorgte sich deshalb, dass Russland via Persien und Afghanistan Englands Herrschaft über Indien bedrohen könnte. Das tat Russland dann auch ebenso wie anschließend die Sowjetunion:
Nach der Revolution in Russland drängte es auch die Bolschewiki - wie zuvor schon die Zaren - gen Indien, um die Vorherrschaft der Briten zu brechen.

Trotzki 1919:
"Der Weg nach Indien könnte sich für uns zum jetzigen Zeitpunkt durchaus als leichter bewältigbar und sogar kürzer als der Weg zu einem sowjetischen Ungarn erweisen."- "Der Weg nach Paris und London" führe "über die Städte Afghanistans, des Punjab und Bengalens."

Delegierte der «werktätigen Massen aller Orientvölker Indiens, Persiens, der Türkei und Armeniens» sowie jener aus Mesopotanien, Syrien, Arabien und darüber hinaus wurden 1920 zu einer Konferenz in Baku eingeladen, wo einer der Hauptdemagogen der Bolschewiki, Grigori Sinowjew, kein Blatt vor den Mund nahm.
«Wir stehen gegenwärtig vor der Aufgabe, einen wahren heiligen Krieg gegen die englischen und französischen Kapitalisten zu entfachen», einen Krieg gegen den Westen, sagte er den Zuhörern. Die Zeit sei gekommen, «die werktätigen Massen des Ostens zum Hass, zu dem Willen [zu] erziehen, gegen die Reichen überhaupt, gleichgültig, ob Russen, Juden, Deutsche, Franzosen, zu kämpfen». Er schloss mit dem Aufruf: «Brüder, wir rufen euch zum heiligen Kampfe auf, in erster Linie gegen den englischen Imperialismus!»

Die Botschaft fiel auf fruchtbaren Boden. Abgesehen von den jubelnden Delegierten gab es auch einige, die in Aktion traten. - Intellektuelle wie Muhammad Barakatullah, der über die Verschmelzung des «Bolschewismus und der islamischen Nationen» schrieb. Sie drängten darauf, den Sozialismus im gesamten muslimischen Asien zu verbreiten. [Quelle: Peter Frankopan, a.a.O. Seite 490f] ___________________________________
 
In diesem Kontext sind auch die folgenden Bilder entstanden:


Dieses Poster aus Usbekistan wurde in den 1920er Jahren in Taschkent veröffentlicht. Der Text: "Frauen! Beteilgt euch an an den Wahlen zu den Sowjets!"
Im Hintergrund sieht man links eine total verschleierte Frau. Die Frau im Vordergrund weist die Richtung. Von links nach rechts wird der Schleier immer durchsichtiger, das Gesicht der verschleierten Frau immer sichtbarer.


In Moskau wurde 1921 diese Bild des Künstlers Nikolai Kochergin publiziert: Militante sowjetische Frauen auf der linken Seite vereinigen sich mit ihren muslimischen Schwestern im Sonnenlicht. [Quelle: David King, Red Star Over Russia, Tate Publishing, 2008]


Freitag, November 11, 2016

Donald Trump: "I alone can fix it". - Empöre und verwundere dich nicht!

Die Empörung ist groß (und falsch).
  • Ja, Hillary Clinton hatte 200.000 Stimmen mehr als Donald Trump. - Wenn das Wahlsystem anders wäre, ... .
  • Ja, wenn nur die unter 40-Jährigen gewählt hätten oder gar nur die unter 29-Jährigen oder nur die Afro-AmerikanerInnen oder nur die mit lateinamrikanischer Abstammung ...
    • Ja, wenn die Medien nicht nah dem Motto Viel Krawall bringt eine hohe Einschaltquote gehandelt hätte, ... . 
Dann wäre Hillary Clinton, die "Falkin", jetzt vielleicht Präsidentin der USA. -
Es gab allerdings auch viele Menschen, die sagten: Die Wahl zwischen Clinton und Trump ist die wie zwischen Pest  und Cholera. - Was haben wir nun? Die Pest oder die Cholera? Man wird sehen.


Viele Menschen freuen sich aber auch über die Wahl Trumps (manche vielleicht mit etwas Sorge und Bedenken dabei).

Es freuen sich:
  • Der russische Präsident Putin, (weil Trump anerkennen will, dass die Krim zum russischen Staatsgebiet gehöre).
  • Die deutsche Zement-Industrie (HeidelbergCement mit Chef Scheifele) ist positiv gestimmt: Der Zement für den Bau der fast 2000 km langen Mauer zwischen den USA und Mexiko "aus schönem Beton" (Trump) würde etwa eine Milliarde Euro kosten. "Mexiko wird zu 100 Prozent für die Mauer bezahlen", so Trump im Covention-Center in Phoenix/Arizona.
  • Die Volksrepublik China freut sich. „China freut sich auf die Zusammenarbeit mit der künftigen US-Regierung und setzt auf neue bilaterale Beziehungen, von denen beide Länder und die ganze Welt profitieren werden“. heißt es in einer kurzen Erklärung aus dem chinesischen Außenministerium.
  • Die deutsche Verteidigungs-Ministerin und die Europäische Rüstungsindustrie freuen sich: Endlich werden sie wohl mehr aufrüsten dürfen.
  • TTIP Gegner freuen sich (eingeschränkt).
  • Die Mehrheit der weißen Männer in den USA freut sich, weil die "White Supremacy" erst einmal wieder gerettet scheint.
  • Die Mehrheit der weißen Frauen schließt sich der Männer-Freude an, auch 52% der weißen Frauen stimmten ja für Trump.
  • Der ungarische Präsident Orban freut sich, weil er einen Seelen-Verwandten gefunden zu haben glaubt. 
  • Die AfD freut sich. "Dieses Wahlergebnis macht Mut für Deutschland und Europa, denn Trump hat tatsächlich die Karten zur politischen Zeitenwende in der Hand." (Frauke Petry)
  • Fundamentalistische und evangelikale protestantische ChristInnen freuen sich. 
  • KatholikInnen freuen sich (Trump hat die Verschärfung der Abteibungsgesetze versprochen).
  • Rechtspopulisten in ganz Europa freuen sich: "Die politische Linke und das abgehobene sowie verfilzte Establishment wird Zug um Zug vom Wähler abgestraft und aus diversen Entscheidungsfunktionen heraus gewählt." (Heinz-Christian Strache, Vorsitzender FPÖ aus Österreich) 
  • Sehr viele AmerikanerInnen werden sich freuen, denn: "Wir werden uns um unsere sozialen Brennpunkte kümmern und unsere Straßen, Brücken, Tunnel, Flughäfen, Schulen und Krankenhäuser wiederaufbauen. Wir werden unsere Infrastruktur, die übrigens allen überlegen sein wird, wiederaufbauen. Und wir werden bei diesem Wiederaufbau Arbeitsplätze für Millionen von Menschen schaffen.." (Trump direkt nach der Wahl) -
  • ...
  • Wer noch?
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Empöre und wundere dich nicht.

Der beste Kommentar zur Wahl, den ich bisher gelesen habe, stammt von der 30-jährigen Amerikanerin Deborah Feldmann, die heute in Berlin lebt.
"Nichts empört mich so sehr wie die Empörung selbst. 
Ich sehe das Entsetzen in den Gesichtern verblüffter Politiker, in ihrer Selbstzufriedenheit gestörte Journalisten, bestürzte Eliten und mürrische Pseudoliberale. Sie können nicht glauben, dass das System, das für sie bisher funktioniert hat, sich ändern könnte. 
Denn sie verstehen nicht, dass die Welt für viele Menschen anders aussieht als für sie. 

  • Haben sie wirklich erwartet, dass Leute, die ein halbes Jahrhundert die Kosten eines globalen Neoliberalismus getragen haben, der sich als Sozialdemokratie tarnt und das Banner der Menschenrechte hochhält, um Ausbeutung, Korruption und Gier zu verbergen, sich nicht wehren würden? 
  • Können gebildete Menschen tatsächlich von der vollkommenen Absage an ein System überrascht sein, das vor allem ihnen selbst Vorteile verschafft? 

Wenn die Verwunderung der Politiker, Experten und Pressesprecher echt ist, dann ist die Entfremdung von denen, die sie repräsentieren sollen, wirklich beängstigend: Es zeigt ihre absolute Ignoranz gegenüber Menschen, mit der sie ihre Welt teilen müssen. Diese Menschen, die wir als hässliche Karikaturen der Dummheit und Wut darstellen, können nicht so einfach zurückgewiesen werden, wie wir es gerne hätten. Sie haben eine Stimme – und Demokratie bedeutet, dass die genauso wertvoll und wichtig ist wie unsere. [...] 
Lasst uns unsere Empörung und unsere Entrüstung beiseiteschieben und lernen, Menschlichkeit auch in den Menschen zu sehen, die anders denken, aussehen und handeln als wir. Und das unabhängig von ihren politischen Überzeugungen. Ich möchte nicht von der biblischen Verpflichtung sprechen, diese Menschen lieben zu müssen, sondern davon, dass wir sie akzeptieren müssen, weil wir ein gemeinsames Schicksal teilen."
[Der ganze Text]
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Siehe auch:
Lies auch:
Zum Buch
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Mittwoch, November 02, 2016

"Gegen den Hass" - Leichter geschrieben als getan.

Zum Buch
»In ihrer repräsentativen Umfrage „Deutsche Zustände“ stellten die Soziologen um den Bielefelder Forscher Wilhelm Heitmeyer eine „Vereisung des sozialen Klimas“ fest. Sie sprechen von einem „verrohenden Bürgertum“. Vor allem bei den knapp 20 Prozent Wohlhabenden oder Reichen diagnostizieren sie eine erschreckend zunehmende Islamfeindlichkeit.
Die „taz“ titelt dazu: „In der Mitte der Gesellschaft wächst der Hass.“«
[Quelle; Dezember 2010!)

Kanzlerin Merkel hat das ganz treffend formuliert:
"All das was ich Ihnen hier sage, wird niemanden überzeugen,
der immer nur, und das auch noch ausdauernd, „Merkel weg“ schreit. Das ist mir klar. Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.
Und das Gefühl einiger geht so: Ich triebe unser Land in die Überfremdung, Deutschland sei bald nicht mehr wiederzuerkennen,
und nun wäre es unlogisch, dies mit Fakten zu kontern, auch wenn ich – dafür kennen Sie mich ausreichend – sofort in der Lage wäre, das herunterbeten zu können.
Ich will dem also meinerseits mit einem Gefühl begegnen: Ich habe das absolut sichere Gefühl, dass wir aus dieser zugegeben komplizierten Phase, besser herauskommen werden, als wir in diese Phase hineingegangen sind."  [Quelle; Angela Merkel, September 2016]
Gefühl gegen Gefühl. - Auch keine Lösung. - Und nun? Wie weiter?
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Postfaktische Kommunikation. Ein Beispiel.

 Jüngst bekam ich eine Mail von einer gut situierten Kollegin aus der Mittelschicht:

[Quelle; Dezember 2010!)
"Habe aber neulich gelesen , dass ein Syrer mit 4 Frauen und 23 Kindern hier Asyl bekommt und monatlich mehr als 30000 €!"


Diese Geschichte war wohl irgendwie an mir vorbei gegangen.
Ich wollte es aber nun (möglichst) wissen, wie das in diesem Fall ist mit den Fakten und habe recherchiert in "linken" und "rechten" Medien und in "neutralen" ... .

Heraus kamen dabei Fakten und Gefühle.

  • 4! Frauen: Das gehört sich nicht. Unanständig. Unmoralisch. Sexuell überaktive Araber! - Wie die auf der Kölner Domplatte an Silvester 2015. - Ich muss meine Töchter davor schützen. - Angst? Berechtigte Angst? Erzeugte Angst? Sexual-Neid?
  • 23! Kinder: Das sind fast 6 Kinder pro Frau. - Wer soll das bezahlen? Wir geben uns mit 1,4 Kindern und 1 Frau zufrieden - Die kassieren unser Kindergeld. Von unseren Steuergeldern.- Wir kommen zu kurz - die bekommen alles in den After geschoben. - Neid? Sozial-Neid? Berechtigte und begründete Kritik? Asoziale syrische Männer, die es sich in Deutschland auf unsere Kost gut gehen lassen? Oder asoziale deutsche Mittelschicht, die ausgebombte Flüchtlinge nicht vor ihrem freistehenden Einfamilienhaus oder ihrem sauer ersparten Reihenendhaus sehen möchten?
  • Asyl? - Oder nur Asylbetrug? Berechtigtes Misstrauen oder übertriebenes Misstrauen? 

Die vorläufige Faktenlage:
  • Ja, diese Familie gibt es.
  • Sie kamen (getrennt) 2015 nach Deutschland.
  • Nach Angaben der Stadt Montabaur reisten die Frauen mit den Kindern jeweils unabhängig von einander nach Deutschland.
  • Ja, die Familie habe aufgrund ihrer eigenen konservativen Strukturen anfangs große Probleme bei der Betreuung hervorgerufen.
  • Eine weitere Großfamilie mit vier Ehefrauen und mehr als 20 Kindern sei dem Amt zumindest im Westerwaldkreis nicht bekannt.
  • Eine Zusammenführung der Großfamilie fand nicht statt und sei auch nicht geplant.
  • Die Mehrfachehe des Mannes wird nicht anerkannt.
  • Der Mann musste sich entscheiden, mit welcher seiner Frauen er eine Bedarfsgemeinschaft bilden möchte, was innerfamiliäre Konflikte auslöste.
  • Mit dieser Frau und ihren Kindern lebt er in Montabaur als Bedarfsgemeinschaft.
  • Eine andere der Frauen lebt mit Kindern in der Nachbargemeinde, zwei Frauen mit Kindern leben im Bereich Koblenz. 
  • Diese gehören NICHT zu der Bedarfsgemeinschaft (Was für die Berechnung des Unterhalts von Bedeutung ist).
  • Die Zahl 30.000 ist rein fiktiv. Sie wurde von „HubertKönigsstein, Diplom-Finanzwirt beim Deutschen Arbeitgeberverband“ ins Spiel gebracht, der sie am grünen Tisch - korrekt - errechnet hat-Aber unter der Maßgabe, dass alle 4 Ehen als Ehen nach deutschem Recht und alle 28 Personen als "Bedarfsgemeinschaft" anerkannt würden.
  • Dieser "Deutsche Arbeitgeberverband Markt & Freiheit e.V." hat mit dem "richtigen" Deutschen Arbeitgeber-Verband nichts zu tun, möchte aber offensichtlich den Anschein erwecken, er habe es. Der "richtige" heißt „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).  
  • »Während [dieser] Deutsche Arbeitgeber Verband auf seiner Homepage die Reizthemen unserer Zeit ausgiebig erörtert, geizt er mit Angaben über seine Mitglieder. … Mitglied in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ist der Wiesbadener Verein nicht. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass hinter dem Verband nur eine Handvoll Leute stehen, die mit Hilfe eines Internet-Auftritts politisch Mimikry betreiben. In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Verband bislang kaum präsent. Das zeigen nicht zuletzt die bescheidenen Zugriffszahlen seines Internetportals.« [Zitat-Quelle] 

Wie ahnte Kanzlerin Merkel schon im September 2015:
 »All das was ich Ihnen hier sage, wird niemanden überzeugen,
der immer nur, und das auch noch ausdauernd, „Merkel weg“ schreit. Das ist mir klar. Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.«

Auch der Kollegin waren die Fakten egal,  die ich mühsam - ich hatte die Illusion: Auch für sie - herausgefunden hatte. Warum? Egal ob 5000 oder 50000 - WIR müssen für die Ausländer zahlen. Und das ist das Gefühl, das gegen Fakten resistent ist.

Was die gelernte Physikerin sagt, weiß die Biologie schon lange: 


Fakten und Gefühle werden in ganz getrennen Teilen des Gehirns verarbeitet.
  • Die Fakten hinter der Stirn im Frontalhirn, 
  • die Gefühle ganz im der Tiefe des Gehirns, im limbischen System und im Stammhirn, von manchen scherzhaft auch "Amphibienhirn" genannt, weil es auch die Krokodile schon besaßen. - In diesen Teilen befinden sich die Funktionen und Gefühle, die man für das Lesen und Diskutiren nicht benötigt, sehr wohl aber für das Überleben:
    Hunger, Durst, Sex, Reflexe, Auf-der-Hut-Sein vor dem Feind ... .
    Das ist auch gut so, ohne diese Teile wäre alles Leben nicht, aber es ist nicht alles.
Eine Verbindung zwischen beiden wird oft erst durch starke persönliche und existenzielle Er-Fahrungen, Er-Lebnisse, Er-Schütterungen hergestellt, z.B. wenn ich meinen Arbeitsplatz für bombensicher hielt und dann plötzlich auf die Straße gesetzt werde.  - Oder wenn eine gut situierte Person (Reihenendhaus auf Kredit) in einem für sicher gehaltenen Land selber ausgebombt wird, ins Ungewisse fliehen muss, selber die Erfahrung macht, auf die Hilfe anderer und völlig fremder Menschen angewiesen zu sein. - Dann kann es plötzlich "Klick" machen... . -

Bis dahin sind Worte nichts als Worte und Bücher nichts als bedrucktes Papier.

Quelle

Donnerstag, Oktober 27, 2016

"... wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“

„Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“


Quelle
Der Satz wird oft zitiert, er erklärt sich wohl aus sich selber heraus. - Der Kontext des Zitates wird allerdings meistens nicht genannt. -

Von 1976 bis 1992 war Willy Brand auch Präsident der Sozialistischen Internationale (SI), einem weltweiten Zusammenschluss von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Organisationen. Insgesamt gehören ihr heute 168 Parteien und Organisationen an, der ständiger Sitz ist London. [Quelle


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Was würde Willy Brandt wohl zur heutigen Situation der Sozialdemokratie sagen?

Vielleicht:
  • "Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die SozialdemokratInnen zu erringen, wenn sie keine SozialdemokratInnen mehr sind."
Oder:
  • "Man kann keine Mehrheit für die Sozialdemokratie gewinnen, wenn es keine (oder kaum) sozialdemokratischen Parteien mehr gibt." 
Wohin man schaut:
Die sozialdemokratischen Parteien zerlegen sich überall selber (in Deutschland seit Schröder, in England seit Tony Blair, in Frankreich seit Mitterand, in Griechenland durch die Papandreou-Dynastie, in den USA seit Familie Clinton - wenn man das denn an Personen festmachen möchte...).

Zum Beispiel:
In Baden-Württemberg hat sie SPD im März 2016 bei den Landtagswahlen das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren und sich im Vergleich zu 2011 fast halbiert auf 12,7%. (1964 und 1972 lag sie noch über 37%, auch danach immer mal wieder über 30%).

Jüngst, bei den Parlamentswahlen in Litauen im Oktober 2016, haben die Sozialdemokraten statt 38 nur noch 17 Mandate bekommen, also sich mehr als halbiert.

In Spanien
konnte man in den letzten Monaten live mit verfolgen, wie sich eine "Sozialistische Arbeiterpartei" (PSOE) selber demontiert.


Die sozialdemokratischen "Sozialisten" (PSOE) haben am 23. Oktober 2016, einem Sonntag, beschlossen, dem konservativen Ministerpräsident Mariano Rajoy (PP) durch Stimmenthaltung im Parlament erneut an die Regierung zu verhelfen.

"Dank der PSOE bleibt auch die korrupteste Regierung im Amt, die Spanien seit dem Rückkehr zur Demokratie je hatte. Hunderte, teils namhafte, Parteimitglieder stehen in Korruptionsverfahren vor Gericht. Im größten Prozess geht es um die illegale Finanzierung der PP in den letzten Jahrzehnten. Was dort bekannt wird, erinnert eher an eine Mafia als an eine politische Kraft."
Warum hat die PSOE nicht versucht, eine eigene alternative Mehrheit mit der traditionellen Linkspartei Izquierda Unida (IU) und der neuen Linkspartei Podemos auszuloten? 

"Die Antwort: Die spanische Wirtschaft wollte auf keinen Fall eine Regierungsbeteiligung von Unidos Podemos, die ein Ende des Sparkurses fordern und die Rücknahme von Arbeitsmarktreformen, die massive Verschlechterungen für Arbeitnehmer brachten. Die Sozialisten haben den Großunternehmen diesen Gefallen getan. Die WählerInnen werden ihnen das nicht verzeihen. Im Laufe der Krise hat die PSOE bereits knapp die Hälfte ihrer WählerInnen verloren. 
Zu Recht droht ihr das Schicksal der griechischen Schwesterpartei Pasok, die zur Unkenntlichkeit verkommen ist." [Quelle]
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Ach, vielleicht könnte Willy Brandt jetzt sagen:
„Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn... "

Siehe auch: Von Abgehängten und Arbeiterparteien...

Donnerstag, Oktober 13, 2016

Vom Rechtspopulismus, Abgehängten, Arbeiterparteien und der Würde des Menschen

Warum in Frankreich ehemalige kommunistische StammwählerInnen heute den Front National und Marie Le Pen wählen, hat der französische Philosophie-Professor und Soziologe Diedier Eribon - auch am Beispiel seiner eigenen Familie - in seinem jungsten Buch sehr anschaulich beschrieben.

Das erklärt zugleich auch, warum bei den letzten Landtags-Wahlen 2016 in Deutschland so viele ArbeiterInnen und Arbeitslose zur AfD gewandert sind, so dass manche meinen: Die AfD ist oder wird die neue deutsche Arbeiter-Partei.
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Kurz gefasst:

"Wer erfüllt heute die Funktion, die damals »die Partei« [die Kommunistische Partei Frankreichs] innehatte?
Von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen? An wen wenden und auf wen stützen sie sich, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden, weil sie sich legitim, da von einer Machtinstanz legitimiert, fühlen? [...]


25 Prozent der Franzosen werden nächstes Jahr im ersten Wahlgang für Marine Le Pen stimmen. Meine Mutter, meine Brüder, viele ihrer Bekannten werden voraussichtlich für den FN stimmen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie, dass es schlimmer nicht werden kann und dass sie nichts zu verlieren haben. 
So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass die Zustimmung zum Front National zumindest teilweis als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfall eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten." (Didier Eribon)
Ja, es geht sowohl um erlebte und/oder befürchtet Armut (z.B. im Rentenalter), aber auch um die menschliche Würde.

Schon 1997 schrieb der (inzwischen aus der katholischen Kirche ausgetretene) katholische Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann:
"Gewiss, schon das natürliche Mitleid drängt dazu, das Elend der Armut zu bekämpfen. 
Doch wird man bald geststellen müssen, dass es durchaus nicht genügt, die äußeren Lebensumstände zu bessern, es gilt den Menschen von innen her ihre Würde zurück zu schenken."
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 Wer vertritt also "die Abgehängten"? 

Von den Grünen in Deutschland hat Solches wahrscheinlich nie jemand erwartet. Sie sind die Partei der liberalen, ökologischen, gut-bürgerlichen Mittelschicht. -
Ja, "Gewiss, schon das natürliche Mitleid drängt dazu, das Elend der Armut zu bekämpfen", aber die Grünen waren nie "DIE Partei" der Arbeiterklasse, der Abgehängten, sie wollten es nie sein und werden es nie sein.
Böse Zungen sagen daher gerne: »Grüne können das Wort "sozial" nicht buchstabieren.«


Und "die Linken" in Deutschland,
also z.B. früher die KPD: 1918 gegründet, 1956 verboten. Warum, das weiß man seit dieser Woche noch etwas genauer: Ende der 1950er-Jahr hatten drei Viertel der Führungskräfte im westdeutschen Justizministerium eine NS-Belastung. Bis 1973 hatte es im Bonner Justizministerium etwa 170 Abteilungs-, Unterabteilungs- und Referatsleiter gegeben; 53 Prozent davon waren ehemalige NSDAP-Mitglieder. - Zu diesem Ergebnis kam jüngst die Kommission, deren Abschlussbericht, "Die Akte Rosenburg" am10. Oktober 2016 in Berlin vorgestellt wurde. „Diese personelle Kontinuität hat den demokratischen Neubeginn belastet und verzögert“, so Justizminister Heiko Maas (SPD).


Dann die SPD:
auf Deutsch erschienen 1980.
(Das war damals sehr hipp.)
Sie hat sich schon lange - ebenso wie die KPF un die Sozialisten in Frankreich - von der Arbeiter- und Arbeitslosenklasse verabschiedet.  (Didier beschreibt auch diesen Prozess - für Frankreich -  sehr nachvollziehbar.)

In Deutschland stehen für den Abschied die Namen Schröder/Fischer mit der Agenda 2010 (am 14.3.2003 von Kanzler Schröder verkündet), in Frankreich die Präsidentschaft des Sozialisten Francois Mitterand (ab 10. Mai 1981), in England der Wechsel und Tony Blair von Labour zu New Labour  (Schröder-Blair-Papier von 1999). 
Die Partei Die Linke, immer noch teilweise belastet durch die SED-Vergangenheit und hat sich noch nicht wirklich gefunden und etabliert.

In England
"Der Weg ins Nichts. -
Warum keiner mehr
von Tony Blairs Drittem Weg redet -
vor allem Tony Blair nicht."
war Anthony Giddens der Hof-Prophet Tony Blairs für dessen New-Labour-Politik. Sein Buch "Der Dritte Weg" erschien 1998 in England und ein Jahr später in Deutschland. Die Idee: Keine "klassische Sozialdemokratie" mehr! Aber auch keinen Neoliberalismus! Sondern ein bisschen von beiden sozusagen. Keine Ideologie mehr, weder linke noch rechte, "Wichtig ist, was funktioniert", so Tony Blair, (um reich zu werden und viel Geld zu verdienen).

Tony Blair hat sich vom Proletariat verabschiedet (Gorz), sich auf den Dritten Weg gemacht (Hidddens), und:
Er hat es geschafft. Er gilt heute als "geldgierige Type" und hat ein privates Vermögen angehäuft, irgenwas zwischen 20- und 100-Millionen Pfund, sagt man. - (Ein britisches Pfund ist aktuell etwas 10% mehr wert als ein Euro:)

Schon 3 Jahre nach dem Erscheinen von Giddens Buch, am 7. Juni 2001 schrieb DIE ZEIT:
Der Weg ins Nichts. - Warum keiner mehr von Tony Blairs Drittem Weg redet - vor allem Tony Blair nicht. [...]
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Der Journalist Pickert beschreibt die Lage heute so:
"Nie zuvor aber seit dem Ende des Nationalsozialismus scheinen so viele so vehement das demokratische Institutionensystem abzulehnen wie jetzt – ob nun in den USA oder in Europa.

Die Grundlagen für diese Ablehnung wurden in den 90er Jahren gelegt, als sich die Ideologie des Staatsrückzugs zugunsten der „Marktkräfte“ selbst in den recht fortschrittlichen Sozialstaaten Westeuropas festsetzte.
In den USA regierte der Demokrat Bill Clinton – und die von ihm verantwortete Deregulierung der Finanzmärkte ermöglichte überhaupt erst viele der späteren Verwerfungen. In Deutschland verabschiedete eine rot-grüne Regierung die Agenda 2010. Fakt war, dass die Politik, die repräsentative Demokratie, damals freiwillig die Funktion abgab, jenen Ausgleich sicherzustellen, der die Gesellschaften vor dem Auseinanderfallen bewahrt."
Und er empfiehlt ein Buch. Über weiße Proletarier in den USA. Das sind die, die jetzt Trump als Präsidenten der USA sehen möchten.

Pickert (a.a.O.):
"Der US-amerikanische Autor J. D. Vance hat mit seinem autobiografischen Buch „Hillbilly Elegy“ vor einigen Monaten eine anschauliche Beschreibung vorgelegt, wie wenig die gelebte Realität relevanter Gesellschaftsteile noch Eingang in den Diskurs der politischen Elite findet.
Schlimmer noch: Verarmte, bildungsferne Weiße sind inzwischen so ziemlich die Einzigen, die man diskriminieren darf, ohne medial geschlachtet zu werden. Keine Comedysendung kommt ohne herablassendes Sich-lustig-Machen über ungebildete Weiße aus, ob sie nun zu Trump-Veranstaltungen in den USA pilgern oder zur Pegida-Demo nach Dresden. 

Wundert sich jemand, dass sie gut finden, wenn einer sie mal ernst nimmt?"

Ja, es geht auch um die Würde des Menschen. Siehe oben.

Zum gleichen Thema - weiße Arbeiterklasse - erschienen 2016 zwei weitere Bücher:


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Christine Nöstlinger,
heute (13. Oktober 2016) vor 80 Jahren in Wien geboren, mag heute lieber Kinder trösten als ihnen den pädagogischen Zeigefinger hochhalten.

Trotzdem hat sie sich in diesen Tagen zur politischen Lage und zur Flüchtlingsfrage geäußert:


Wenn ich mir zum Beispiel die Situation mit den Flüchtlingen ansehe: Da verbreiten irgendwelche Deppen im Internet einen völligen Blödsinn, und zwei Tage später hört man ihn schon im Kaffeehaus. Wie gern die Leute schiache Sachen weitererzählen! Da kann man doch nur traurig sein. Warum sollte sich eine Österreicherin bedroht fühlen, wenn irgendwo in drei Kilometern Entfernung 80 Flüchtlinge untergebracht werden sollen?

Glauben Sie, dass es dabei um Flüchtlinge geht – oder liegt da eigentlich etwas anderes drunter?

Wenn man es nicht so bös beurteilt, ist das die Enttäuschung bei den Leuten. Es ging 20, 25 Jahre lang immer bergauf. Sie haben immer mehr bekommen, sie konnten sich immer mehr leisten, und seit zehn Jahren geht das nicht mehr. Jetzt merkt man den Frust und die Wut darüber. Die Decke der Zivilisation ist sehr dünn, und sie kriegt gerade überall Löcher. [Das ganze Interview]



Freitag, Oktober 07, 2016

"Links" oder "Rechts" ist (manchmal) eine blöde Frage. - Frau Wagenknecht, Frau Petry, Frau Clinton und Herr Eribon.

Links-Rechts-Test:
  • Ist pro Putin links oder kontra Putin? 
  • Ist pro EU links oder kontra EU? 
  • Ist es links, europäische Entscheidungen ins Nationale zurückzuverlagern? 
  • Ist erneuerbare Energie links oder Verteidigung von Kohle? [Quelle]

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Quelle
»Es war ein sehr bemerkenswertes Doppelinterview, das an diesem Wochenende in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschien und das vermutlich in beiden Parteien, der AfD und der Linken, noch für einigen Wirbel sorgen wird.
[...] die letzten Landtagswahlen haben gezeigt, dass es zumindest in der Wählerschaft der beiden Parteien starke Überschneidungen gibt: in großen Scharen wanderten da Linkswähler zur AfD ab. [...]
  
Frau Wagenknecht: "Wer sein Gastrecht missbraucht, hat es verwirkt."

Dieses Zitat steht auch am Anfang des Doppelinterviews und gibt Wagenknecht die Gelegenheit ihre umstrittene Position noch einmal zu verdeutlichen: "Wenn so viele Menschen nach Deutschland kommen wie infolge von Merkels Politik im vorigen Herbst, dann muss man auch dafür sorgen, dass Integration gelingt und die notwendigen Wohnungen und Arbeitsplätze vorhanden sind." Entscheidend sei jedoch, den Menschen in den Herkunftsländern zu helfen.

"Damit haben Sie gerade AfD-Positionen referiert", jubelt Petry.

Wenn die "Rechtsbeugung" durch die Regierungsseite oder die Ausnutzung des Asylrechts durch "Armutsmigranten" dazu führe, dass es in Deutschland einen Konkurrenzkampf unter den sozial Schwachen gebe, könne das doch auch nicht im Interesse einer linken Partei sei, appellierte sie an Wagenknecht. « [ZEIT-online 2.10.2016]
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Von zwei ganz unterschiedlichen Arten "links" zu sein ...

schreibt der französische Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims (edition suhrkamp), das im Jahr 2016 bisher schon 4 Auflagen erlebt am Beispiel seiner eigenen Famile.
  • I. Das Links-Sein der ArbeiterInnen 
  • II. das Links-Sein der bürgerlichen Intellektuellen.

Eribon, Jahrgan 1953, Arbeiterkind aus Reims, heute Professo für Philosophie an der Universität Amiens, schreibt über seine Kindheit (a.a.O.):

Nr. I.
"Kleine und mittelschwere Straftaten waren [bei uns] im Viertel die Regel, sie waren eine Art Volkssport, ein unbeugsamer Widerstand gegen die Gesetze eines Staates, den man im Alltag nur als das allgegenwärtige Machtmittel des Klassenfeindes erlebte.
Nicht selten hatten die Nachbarn meiner Großeltern vierzehn oder fünfzehn Kinder.[...]

Die Kommunistische Partei 
hielt sich allerdings ebenfalls gut. Die Parteimitgliedschaft war, jedenfalls bei den Männern, ziemlich verbreitet. Frauen nahmen an den Treffen der »Parteizellen« und bei anderen »aktivistischen« Anlässen nicht teil, trugen die Ansichten ihrer Ehemänner aber mit. Für die Ausbreitung und Verfestigung des politischen Zugehörigkeitsgefühls, das so eng und intuitiv mit einem sozialen verbunden ist, war das Parteibuch gar nicht notwendig. 
»Die Partei« brauchte keine weiteren Attribute, es war klar, von welcher man sprach. Mein Großvater, mein Vater und seine Brüder gingen gemeinsam zu den regelmäßig von der nationalen Parteiführung einberufenen Versammlungen [...] . Man wählte stets den kommunistischen Kandidaten und wetterte gegen die »faulen Kompromisse« und gebrochenen Versprechen der »falschen«, das heißt sozialistischen Linken — gab dieser aber doch seine Stimme, wenn das im zweiten Wahlgang nötig war. [...]   
»Die Linke« 
war ein starker und bedeutsamer Ausdruck. Man hatte eigene Interessen zu verteidigen und wollte die eigene Stimme hörbar machen. Jenseits von Streiks und politischen Demonstrationen vertraute man zu diesem Zweck sich selbst und seine Wählerstimme den »Repräsentanten der Arbeiterklasse« an, den politischen Verantwortungsträgern, deren Entscheidungen und Diskurse man durch den Akt der repräsentativen Wahl in ihrer Gesamtheit mittrug und bestätigte. [...]

Und wenn sich am Wahlabend wieder einmal abzeichnete, dass die Rechte gewonnen hatte, folgte der Wutausbruch; man ereiferte sich über die »gelben« Arbeiter, die »gaullistisch« und somit gegen sich selbst gestimmt hätten. Wie oft ist dieser — de facto immer nur partielle — Einfluss der Kommunisten auf verschiedene populäre Milieus der fünfziger bis siebziger Jahre beklagt worden. Und wie selten hat man sich bemüht, diesen Einfluss einmal aus der Sicht derjenigen zu betrachten, die man umso schneller verurteilt, als sie sich nicht öffentlich äußern können. [...]

  • Die Zustimmung zu kommunistischen Werten gründete sich auf dringlichere, konkretere Sorgen und Nöte." [...]

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Nr. II.


"Links zu sein, sagt - im Unterschied und Gegensatz dazu - der französische Philosopg Gilles Deleuze (1925-1995) in seinem Abécédaire[1],
  • das heiße, »eine Horizontwahrnehmung« zu haben (die Welt als ganze zu sehen, die Probleme der Dritten Welt wichtiger zu finden als die des eigenen Viertels).
  • Nicht links zu sein hingegen bedeute, die Wahrnehmung auf das eigene Land, auf die eigene Straße zu verengen.
  • Seine Definition ist der Art, in der meine Eltern links waren, diametral entgegengesetzt. 

Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt.
Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.
Man schaute auf sich selbst, nicht in die Ferne, und zwar in geschichtlicher wie in geografischer Hinsicht. Und auch wenn man oft wiederholte, dass »eine richtige Revolution« vonnöten sei, so war diese Formel doch eher auf die eigenen Lebensumstände mit ihren Härten und Ungerechtigkeiten gerichtet als auf einen Umsturz des politischen Systems. [...]

Mein Vater: »Die rote Fahne ist die Fahne der Arbeiter!« 
Später fühlte er sich beleidigt und angegriffen von der Art, wie Valery Giscard d'Estaing [Von 1974 bis 1981 war Giscard d’Estaing Staatspräsident von Frankreich] sein großbürgerliches Ethos, seine affektierten Gesten und grotesken Redeweisen in die französischen Wohnzimmer trug. Auch die Journalisten und Moderatoren politischer Sendungen beschimpfte er, und er freute sich diebisch, wenn jemand, den er als Sprachrohr seiner eigenen Gedanken und Gefühle ansah — dieser oder jener stalinistische Apparatschik mit Arbeiterakzent —, die Spielregeln der Medienmacht auf eine Weise durchbrach, die man heute, wo die Unterwerfung der Politiker und fast aller Intellektueller quasi total geworden ist, gar nicht mehr kennt, indem er auf das typische entpolitisierte Geplänkel einfach nicht mehr antwortete und stattdessen die tatsächlichen Probleme der Arbeiter ansprach, womit er all jene würdigte, die bei solchen Gelegenheiten niemals sprechen und deren Existenz aus dem Feld der legitimen Politik systematisch ausgeschlossen wird. [...]
Die Anrufung der Revolution, über deren Details man nie nachzudenken brauchte, war eine Art Mythos gegen den Mythos, eine Form der verbalen Notwehr gegen böswillige Kräfte (Rechte, Reiche Mächtige), die alles zu kontrollieren schienen und deren dunkle Macht man hinter jedem Unheil vermutete, das sich im Leben der »kleinen Leute«, der »Leute wie wir« ereignete.

Für meine Familie teilte sich die Welt in zwei Lager. 
Entweder man war »für die Arbeiter« oder man war gegen sie, entweder man »verteidigte« die Arbeiter oder man tat nichts für sie. [...] Auf der einen Seite das »Wir« und das »Mit uns«, auf der anderen das »Sie« und das »Gegen uns«.


Wer erfüllt heute die Funktion, die damals »die Partei« innehatte?
Von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen? An wen wenden und auf wen stützen sie sich, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden, weil sie sich legitim, da von einer Machtinstanz legitimiert, fühlen? [...]"


[1] eigentlich ABC-Täfelchen, die vom 15. -19. Jahrhundert als Lernhilfen für Kinder dienten [Wikipedia]. In diesem Fall ist eine französische Fernsehserie gemeint, „L'Abécédaire de Gilles Deleuze“, die zwischen 1988–1989 produziert wurde und aus einem fast 8-stündigen Gespräch mit Gilles Deleuze besteht. Auf deutsch: 3 DVDs, ca. 22 Euro. - Gilles Deleuze, »Gauche / Die Linke«, in: Abécéclaire. Gilles Deleuze von A bis Z (DVD), Berlin: absolut Medien 2009 [1988 / 89].
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Die kommunistische und zugleich "rechte" Familie

25 Prozent der Franzosen werden nächstes Jahr im ersten Wahlgang für Marine Le Pen stimmen. Meine Mutter, meine Brüder, viele ihrer Bekannten werden voraussichtlich für den FN stimmen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie, dass es schlimmer nicht werden kann und dass sie nichts zu verlieren haben.

"Mir ist durchaus bewusst," - schreibt Didier - "dass das Programm und der Erfolg des Front National von den Gefühlslagen der Arbeiterklasse in den sechziger und siebziger Jahren in vielerlei Hinsicht geprägt bzw. hervorgerufen wurden.
Hätte man aus dem, was damals tagtäglich in meiner Familie gesprochen wurde, ein politisches Programm stricken wollen, es wäre, obwohl man hier links wählte, dem der Rechtsextremen wohl ziemlich nahegekommen:
  • Forderungen, Einwanderer wieder abzuschieben; 
  • »nationales Vorrecht« auf Arbeitsplätze und Sozialleistungen; 
  • Verschärfung des Strafrechts und der Strafverfolgung; 
  • Beibehaltung und Ausweitung der Todesstrafe; #
  • die Möglichkeit, die Schule bereits mit vierzehn Jahren zu verlassen, usw. 
Ein tiefsitzender Rassismus, der eines der dominanten Merkmale der weißen Arbeitermilieus und Unterschichten ausmachte, hat die Eroberung einer ehemals kommunistischen Wählerschaft durch den Front National (oder von jungen Wählern, die gleich für den FN stimmten — offenbar fiel es Arbeiterkindern deutlich leichter, systematisch die Rechten zu wählen) vielleicht erst ermöglicht oder jedenfalls erheblich begünstigt.
  • »Sie übernehmen das Land«, 
  • »Sie verdrängen uns«, 
  • »Sie kriegen Sozialhilfe und Kindergeld, und für uns bleibt nichts«."

Als meine Eltern Mitte der sechziger Jahre ihre Sozialwohnung am Stadtrand erhielten, in der auch ich zwischen meinem dreizehnten und zwanzigsten Lebensjahr wohnen sollte, gab es dort nur Weiße.
Erst Ende der Siebziger, lange nach meinem Auszug,kamen maghrebinische Familien und waren in der Wohngegend schnell in der Mehrheit. Rassistische Reflexe, die in Alltagsgesprächen schon immer zu hören gewesen waren, erfuhren dadurch eine spektakuläre Verschärfung.


Doch weil es sich dabei um zwei Wahrnehmungsebenen handelte, die sich kaum überschnitten, hatte dies politisch zunächst keine großen Auswirkungen:
  • Man wählte eine Partei (»die Partei«), die sich gegen den Algerienkrieg ausgesprochen hatte, 
  • man schloss sich einer Gewerkschaft an (der CGT'), die offiziell den Rassismus anprangerte, 
  • man fühlte sich politisch als linker Arbeiter.

Außerhalb des engsten Familienkreises fühlte man sich verpflichtet, rassistische Äußerungen zurückzunehmen oder sich für sie zu entschuldigen.
Nicht selten begannen oder endeten Sätze mit der Formel
  •  »aber ich bin kein Rassist«, 
  • oder man hob demonstrativ hervor, dass es »bei denen« auch »normale Leute« gebe, um dann das Beispiel von diesem oder jenem »Kerl« aus der Fabrik zu bringen, der sich so und so verhalten habe."
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Rechts oder links?

"So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass die Zustimmung zum Front National zumindest teilweis als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfall eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten." (Eribon)
Ob in Frankreich, Deutschland oder USA (aber derzeit nicht in Griechenland, Spanien, Porugal):
Die Abgehängten und/oder die, die befürchten, abgehängt zu werden, wenden sich nach rechts (Front National, AfD, Trump).
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Hillary Clinton und Marie Antoinette. Für die USA schreibt die US-amerikanische Journalistin Anjana Shrivastava:

»[...] Doch all das ist unter dem Radar der hoch fliegenden New Yorkerin Hillary Clinton. Die ehemalige Präsidentengattin und heutige Kandidatin ist eher unter den Reichen und Schönen der Städte auf Sponsorenabenden anzutreffen, wo sie sich laut der ihr eigentlich wohlgesonnen New York Times sichtlich wohl und entspannt fühlt – als sei sie auf Familienhochzeiten unterwegs. 
Neulich sprach sie auf so einer Veranstaltung über die Hälfte der Trump-Wähler als ein „basket of deplorables“, ein „Haufen der Bedauernswerten und Armseligen“. So sieht sie die Menschen, die Trumps Lügen, seine Fremdenfeindlichkeit und seinen Frauenhass nicht gebührend abstrafen, nur weil sie wirtschaftlich und kulturell verzweifelt sind. Sollte Hillary Clinton in November wider Erwarten verlieren, wäre dieser Ausspruch über die „Deplorables“ ihr Marie-Antoinette-Satz: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollten sie Kuchen essen.“ Ein Satz, der Alternativen voraussetzt, die manche Amerikaner nicht mehr sehen.

Dabei wäre es Clintons Aufgabe, diese [?] Alternativen dem Wahlvolk nahezubringen. « 

Frage:
Und warum gehen bildungsbürgerliche Intellektuelle ("Neue Rechte", "Identitäre")  nach rechts?