Sonntag, Juli 03, 2016

Rule Britannia. Wer ist Schuld am Brexit!? - Oder: Wer muss wem dankbar sein??


Eine von der Universität Edinburgh in sechs EU-Staaten durchgeführte Untersuchung
belegt, dass die Franzosen nach den Briten am meisten gegen die EU eingestellt sind.

  • Während die Deutschen mit 60,
  • die Polen mit 66 
  • oder die Spanier mit 68 Prozent für die EU-Mitgliedschaft votieren würden,
  • wären in Frankreich nur gerade 45 Prozent für den Verbleib in der EU,
  • 33 klar für einen „Frexit“, 
  • und 22 hätten dazu noch keine eindeutige Position. [Quelle] [Zu den Zahlen siehe auch]    
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 "Die" alten Engländer(innen?) sind natürlich Schuld am Ausgang der Abstimmung.
Warum?
Sie haben für den Brexit gestimmt.
Warum?  Sie träumen immer noch von "Rule Brittania! Britaania rules the waves!". Und nicht: "Rule EU, EU rules the waves."

Und außerdem: Man muss nicht jedes Wochenende mit Ryan Air zur Party nach Paris und Berlin jetten. Schön war die Jugend und zuhause am Fernseher mit einem Glas Ale ist es auch ganz schön.
Als Britannien erstmals, auf Geheiß des Himmels,aus der blauen See entstieg,
war dies die Gründung des Landes,und Schutzengel sangen diese Melodie:|:Herrsche, Britannia! Britannia beherrsche die Wellen; Briten werden niemals Sklaven sein.:|Noch majestätischer sollst du aufsteigen,
noch schrecklicher durch jeden fremden Schlag;
weil das laute Krachen, das die Himmel zerreißt,nur dazu führt, deine eingeborene Eiche zu verwurzeln.
Dich sollen hochmütige Tyrannen niemals zähmen;
alle ihre Versuche dich niederzubeugen,werden nur deine edelmütige Flamme anfachen,und nur für deren Leid und deinen Ruhm sorgen. |:Refrain:|
Dir gehört die Herrschaft über das Land.
[... Übersetzung wikipedia]

Ein Freund aus London schrieb mir: 
"I feel sick to the stomach.
Die Alten machen uns fertig.
Der Brexit hat seine Unterstützer vor allem bei den über 60-Jährigen gefunden. - Als wäre ihnen egal, was aus uns wird, vielleicht ist es eine seltsame Rache dafür, dass die junge Generation kaum noch Enkel zeugte."
[Quelle: Jagoda Marinic, * 1977, taz 28.6.2016]
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Nein, "die" jungen Engänder_innen sind natürlich Schuld.
Warum?
Darum:
Wenn die jungen Hipster und Schnösel schon weiterhin am Wochenende in Berlin und Mailand Party machen und/und shoppen wollten, dann hätten sie auch ordentlich auf der Staße gegen den Brexit mobilisieren können statt in sozialen Netzwerken ihre Kätzchenbilder und Selfies hochzuladen und Politik Politik sein zu lassen.

Wer zu spät aufsteht, den bestraft das Leben: Jetzt profitieren die Rechts-Populisten von der Trägheit der nach 1980 Geborenen.
Zwar haben 73% der 18-24-Jährigen, die gewählt haben, für den Verbleib in der EU gestimmt, aber nur 36% aus dieser Altersgruppedie sind überhaupt zur Wahl gegangen;
83% der 65-Jährigen sind zur Wahl gegangen:
Und ich sehe junge Briten, die fassungslos in Handykameras sprechen und die Älteren fragen:
"Warum habt ihr unsere Zukunft abgewählt?"

[Quelle: Nora Bossong, *1982, und Aljoscha Brell, *1980, in der taz vom 29.6.2016]
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Nein, "die" Linken sind Schuld.
Warum?
"Eine erhebliche Zahl linker BritInnen hat auch für den Brexit gestimmt.
Sie glaubten, das würde dazu führen, EU-Restriktionen zurückzuweisen und dass wir unsere Industrien renationalisieren könnten. Aber das wird nie geschehen. Das war nie im Spiel. [...] 

Viele EU-BefürworterInnen hatten keine Lust, sich an die Seite von Cameron und anderen Koservativen zu stellen. Gerade in Großbritannien ist es extrem schwer, für die EU zu argumentieren. Denn viele der Vorwürfe, etwa der, die EU sei antidemokratisch, treffen einfach zu. Trotzdem war der Verbleib in der EU die beste Option, die wir hatten.[...] 
Aber es sind eine Menge Leute wütend, einschließlich derjenigen, die für den Brexit gestimmt haben und nun sehen, wie sehr sie belogen wurden. Jetzt sehen sie, wie die Austrittsanführer sie mit ihren Versprechen beschwindelt haben: Sie haben gesagt, es könnte 315 Millionen Pfund extra geben jeden Tag. Und jetzt heißt es:
Nein, nein, so haben wir das nicht gemeint.
Die Leute fühlen sich belogen und betrogen. Ja, es gibt eine Menge Wut und eine Menge Angst."
[Laurie Penny, *1986 in London, britische Journalistin, Autorin, und Feministin]
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Nein, "Leute, die an ihren Lohn dachten und neoliberale Politik sind Schuld":
"Eine Menge Leute haben dafür gestimmt, weil sie an ihren Lohn dachten, um es dem Establishment zu zeigen, dass sie das alles satthaben. [...] Der Lebensstandard ist für eine Masse von Leuten gesunken.
Großbritannien ist in den letzten Jahren immer ungleicher geworden. Gewiss ist das auch eine Folge der Bankenkrise. Aber die soziale Spaltung ist eine Wirklichkeit. Und das ist die Folge von 30 Jahren neoliberaler Politik. Das ist seit Mar­gret Thatcher so. Aber Cameron hat Thatchers Programm der Restrukturierung der Nation nach neoliberalem Modell vollendet."
[Laurie Penny _________________________________________________ 

Nein. "Die mangelnde Demokratie der EU ist Schuld":
Wer hat eigentlich die Troika gewählt?
  • In der Eurokrise setzte sich der Norden unter Merkels Führung rüde auf Kosten des Südens durch.
  • Die EU ist keine Diktatur, wie die Rechte suggeriert. Aber EU-Bürger können eine Regierung in Brüssel nicht abwählen. Das ist Realität, keine Fantasie.
  • Das Gros der [nationalen] Gesetze wird mittlerweile aus Brüssel übernommen. [Brüssel, Zentrum der Europäischen Union. Neben dem Europäischen Rat und der Kommission beheimatet Brüssel auch das Europäische Parlament.]
    De facto ist das eine Teilentmachtung der nationalen Parlamente. Das wäre keineswegs schlimm, wenn die Gesetzgebung in Brüssel mit soliden checks and balances funktionieren würde. Doch so ist es nicht.
  • Das EU-Parlament ist nach wie vor schwach,
  • die Exekutive so übermächtig wie sonst nur in autoritären Regime.
  • "Wenn die Eliten weiter so tun, als gäbe es in Brüssel kein Demokratiedefizit, wird das Gespenst im Schrank immer größer. Ohne grundlegende Reform wird die EU wohl früher oder später implodieren." [Quelle: S. Reinecke] ___________________________________________
Sind denn alle, die für den Brexit gestimmt haben, Faschisten?
Mitnichten. [...]
Aber unglücklicherweise haben wohl alle, die rassistisch sind, für den Brexit gestimmt. Und die anderen, die das auch getan haben, müssen sich nun der Tatsache stellen, dass sie eine rassistische Minderheit ermächtigt haben.

PolitikerInnen und KampagnenführerInnen mit asiatischen Wurzeln oder muslimischen hören jetzt: „Geht dahin zurück, woher ihr kommt.“ [Laurie Penny a.a.O.] _________________________________________________
 Nein. "Die Reichen" haben nicht für den Brexit gestimmt:
"Nur die Reichsten
haben sich hier
[in Süd-England] mehrheitlich für die EU entschieden. Schließlich liefert ihnen der Binnenmarkt beständigen Nachschub an günstigen polnischen Handwerkern und slowakischen Kindermädchen, die ja alle so viel zuverlässiger sind als das eigene ungeschliffene englische Proletariat, mit dem man so wenig zu tun haben will wie irgend möglich.
  • Aber es stimmte eben auch dieses Proletariat für den Brexit, und zwar genau deshalb, weil es sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sieht. [...]
  • Zu den Zeiten von Tony Blair war die Annäherung Großbritanniens an Europa ein Kulturkampf gegen die Unterschicht, geführt von New Labour gegen die eigene Wählerschaft: Croissants statt Kraftfrühstück, Wein statt Bier, Cafés statt Kneipen, Technokratie statt Demokratie.
  • Europa wurde zum Synonym eines Tummelplatzes für eine elitäre Minder­heit, die ­mehrere Sprachen spricht, Ferienhäuser in der Dordogne kauft und zum Shoppen gern mal nach Paris düst.
  • Derweil wurden die eh schon ihrer Sicherheit beraubten Arbeiterschichten neuer Konkurrenz aus den osteuropäischen EU-Beitrittsländern ausgesetzt."
  • "Als die maroden Industrien Großbritan­niens in den 1980er Jahren von der Politik fallen gelassen wurden und ganze Gemeinden ihre Lebensgrundlagen verloren, [... wurden] ganze Orte wurden zu Sozialfällen, ihre Kommunalverwaltungen Selbstbedienungsläden für zweitklassige Lokalpolitiker, die nicht gut genug für London waren.
  • In den verwüsteten Industrieregionen verwalteten korrupte Labour-Klüngel ohne reelle Aufgabe abgestürzte Arbeitersiedlungen ohne Perspektive, beide Gefangene der Krise.
  • Unter Labour wurde ab 1997 der öffentliche Dienst aufgebläht, aber nur wenig für ökonomische Regeneration getan.
  • Unter den Konservativen, die 2010 an die Macht zurückfanden, gab es einen massiven Stellenabbau im staatlichen Bereich und viele neue Jobs in der Privatwirtschaft, aber ohne die alten Sicherheiten und den alten Gemeinschaftssinn.
  • Nord- und Mittel­englands Metropolen wie Manchester und Leeds, Sheffield und Birmingham haben sich modernisiert, aber noch immer wirkt das Ergebnis, anders als im Süden des Landes, wie eine aufgesetzte Fassade auf nicht instand gesetzten Grundbauten.
    Das ist in diesen Landesteilen der Nährboden des Brexit, gekoppelt mit einer existenziellen Krise der Labour-Partei, die heute eher ein Relikt der Vergangenheit als ein Projekt für die Zukunft darstellt.
    [...]
    " [Der ganze Arikel; D. Johnson, britischer Journalist, *1966]
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"Die" Franzosen wollen auch einen Brexit. - Und dazu noch einen Frexit.
Die Einwohner von Calais in Nordfrankreich erhoffen sich vom Brexit endlich eine Lösung für das Flüchtlingsproblem am Ärmelkanal.
Laut dem konservativen Vorsitzenden der nordfranzösischen Region Xavier Bertrand wird nun nämlich das 2003 unterzeichnete Abkommen von Touquet hinfällig, mit dem Frankreich für Großbritannien die Grenzkontrolle übernommen und sich damit verpflichtet hat, die Tausende von Migranten und Flüchtlingen auf dem europäischen Festland zu stoppen. Jetzt sollen die Briten gefälligst diesen undankbaren Job selber übernehmen. "
Jetzt werden wir ganz einfach die Kontrollen lockern und die Migranten durchgehen lassen." -
Auch Frankreichs Rechtsextremisten fühlen sich durch den Brexit bestärkt. [...] Feststimmung herrscht an der Rue des Suisses im Pariser Vorort Nanterre. [...] Sie hatte es geahnt: Eine Mehrheit der Briten würde die Chance nicht ungenutzt vorübergehen lassen, den „Eurokraten“, ihrer eigenen Regierung und Elite eine Abfuhr zu erteilen.  [...] Genau dasselbe erhofft Marine Lepen sich  auch für Frankreich. Sie fühlt sich ganz im Trend und macht schon mit Plakaten Stimmung für eine Volksbefragung in Frankreich. „Brexit – et maintenant la France“ steht darauf als Ankündigung,
dass nach dem Brexit „jetzt Frankreich“ an der Reihe sei, Brüssel mit einem Fußtritt in die Wahlurne die Gefolgschaft zu verweigern. [Quelle]
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