Dienstag, September 20, 2016

"Die Bundeskanzlerin ist in der Flüchtlingspolitik auf dem Rückzug" - Oder nicht? Oder doch? - Der "Reichstag zu Berlin"

Schritt I.
Alles Dienstagmorgens.
Als ich heute Morgen mein Email-Postfach öffnete, las ich als Erstes die triumphale Mail eines Kollegen:
"Endlich entschuldigt sich Merkel für ihren Fehler in der Flüchtlingspolitik".
Im Sinne von: "Habe ich dir ja immer schon gesagt. Endlich sieht sie es ein, dass ihre Flüchtlings-Politik ein Fehler war". 

Ich dachte: "Kann ja wohl nicht wahr sein."
Im Sinne von: "Glaube ich nicht, hoffe ich nicht". 
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Schritt II.
Dann schlage ich die Südwest-Presse auf und lese:

"Die Bundeskanzlerin ist in der Flüchtlingspolitik auf dem Rückzug"
Ich denke: "Also doch!?"
Dann rege ich mich etwas über die Formulierung auf: "Rückzug in Raten". - Aha, den Rückzug von Frau Merkel möchte aktuell natürlich so manch Eine/r, zum Beipsiel die FAZ (so las ich zumindest irgendwo); und der Kommentator, der diesen Satz schrieb, möchte den LeserInnen den Gedanken des Kanzlerinen-Rückzuges vielleicht auch schon mal so nebenbei ein bisschen unterjubeln. So denke ich mir.
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Schritt III.
Mir fällt "der einfache CDU-Landrat" ein,
der letze Woche - ebenfalls im Schwäbischen Tagblatt bzw. im Lokalteil, in der Tübinger Chronikgeschrieben hatte:
"Aufnahme und Integration von Flüchtlingen als humanitäre Verpflichtung und Chance"
"Ich finde diese Entscheidung [vom Sommer 2015: Die Flüchtlinge aufzunehmen, die über den Balkan kamen und in Ungarn festsaßen] noch heute richtig.
Wir hatten noch das Potenzial, Menschen aufzunehmen. Und ich habe auch die humanitäre Verpflichtung unseres Landes in dieser Situation gesehen. Andere Länder haben sich der Situation entzogen, doch die Kanzlerin hat an diesem einen Wochenende entschieden: Bevor die Situation in Ungarn völlig eskaliert, machen wir auf. In der Situation, in der die Menschen waren, durfte man nicht wegsehen. -
Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat immer wieder mal deutlich gemacht, dass er die Dinge anders sieht. Ich muss ja nicht sein Fan sein als Christdemokrat, aber auch er hat eine klare Haltung in der Flüchtlingskrise gezeigt und sich wohl auch deshalb hinter die Kanzlerin gestellt.Viele haben die Chance genutzt, ihr parteipolitisches Süppchen zu kochen, und das hat er gerade nicht getan. Davor habe ich hohen Respekt, auch in der Verantwortung fürs Land.” (J. Walter, CDU-Landrat Kreis Tübingen)
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Schritt IV.
Ich denke: Hat sich "der einfache CDU-Landrat" doch vertan?
Kocht jetzt auch Frau Merkel - in ihrer Eigenschaft als CDU-Chefin -  ihr parteipolitisches Süppchen, nachdem die CDU in Berlin 5% (oder so) verloren hat und die AfD auf Anhieb so viel gewonnen hat? - Bereut sie jetzt doch öffentlich, dass "sie die Flüchtlinge ins Land gelassen" hat? Heult sie nun auch mit den Wölfen, der AfD und Seehofer?
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V.
Ich lese weiter im Kommentar des Schwäbischen Tagblatts:
»Am Tag nach der historischen Schlappe der Berliner CDU hält sich die Partei-Chefin nicht lange mit dem „sehr unbefriedigenden, sehr enttäuschenden, sehr bitteren Wahlergebnis“ in der Hauptstadt auf, sondern übernimmt „den Teil der Verantwortung, der bei mir als Bundeskanzlerin und Bundesvorsitzender liegt“ – bei Merkels Flüchtlingskurs nämlich.«
Der Kommentator kommentiert also: Merkels Flüchtlingskurs ist Schuld an dem sehr unbefriedigenden, sehr enttäuschenden, sehr bitteren Wahlergebnis". - Das kann gut sein. Da hat er wohl nicht Unrecht.
Aber hat Angela Merkel - protestantische Pfarrerstochter - ihren Kurs nun widerrufen?

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VI.
Apropos protestantische Pfarrerstochter:
Von Martin Luther, Begründer des Protestantismus in Deutschland, wurde auf dem Reichstag zu Worms (anno1521) erwartet, dass er bestimmte Aussagen widerrufe. Fünf Buchstaben: "REVOCO" = "ICH  WIDERRUFE", hätten ihn vor dem Scheiterhaufen retten können. -
Man weiß, wie es bei Luther ausging; er widerrief nicht, wurde von mächtigen deutschen Fürsten versteckt und beschützt, landete nicht auf dem Scheiterhaufen, machte noch eine große Karriere und starb 25 Jahre später im Bett. nd 2017 feiert Deutschland das Lutherjahr. (Am 31.10.1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen)

Quelle

Ok. Angela Merkel wird von mindestens einem wichtigen deutschen Fürtsen nicht unterstützt.  Das ist schon mal ein Unterschied.
Und wie starb Luther eigentlich nochmal genau?
»Aber als die Gräfin Anna durch Einreibungen mit Rosenöl und Aquavit half, regte sich wieder Leben. Jonas und Coelius fragten ihn schließlich nochmals, ob er auf Christi Namen sterben und dessen Lehre bekennen wolle. Luther antwortete mit einem schlichten "Ja". Darauf schlief er wieder ein. Das Gesicht wurde bleich, Füße und Nase erkalteten. 2.45 Uhr verschied er mit einem letzten hörbaren Atemzuge, ganz in Frieden.« [Quelle]
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VII:
Ich schaue mal bei SPIEGEL-online vorbei.
»[...] war das die "Ich habe verstanden"-Rede der Kanzlerin? Im Ton sicher. Aber in der Sache?
Fast 20 Minuten [Im Schwäbischen Tagblatt "Fast eine Viertelstunde"] sprach Merkel gestern auf der Pressekonferenz zur Berlin-Wahl über ihre Flüchtlingspolitik, zuvor hatte sie sich in den Parteigremien schon ähnlich geäußert. Was sie sagte, war durchaus selbstkritisch.
Doch die Fehler, die Merkel eingestand, liegen weit in der Vergangenheit, das Dublin-Abkommen, die schleppende Integration. Oder sie bezog sich auf ihre Kommunikation: Sie müsse besser erklären.
Den Kern ihrer Flüchtlingspolitik stellt die Kanzlerin weiterhin nicht in Frage.«
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VIII:
Ich atme auf und denke an den Landrat.
Also doch kein Widerruf.
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IX.
Ich schaue mal in der taz vorbei:
"Gegenwärtig(!) kommen täglich noch etwa 100 – einhundert – Flüchtlinge nach Deutschland.
Um die von der CSU geforderte Obergrenze von 200.000 zu erreichen, müsste man um zusätzliche Hilfsbedürftige werben. Deutschland hat inzwischen eines der restriktivsten Asylgesetze der Welt." [Bettina Gaus, 10.9.2016]

Grenze Mexiko/USA
Und in der KONTEXT-Wochenzeitung:
Die Bundesregierung betreibt seit Monaten das Geschäft der rechten Hetzer, indem sie eine AfD-Forderung nach der anderen umsetzt. So wurden binnen eines Jahres die krassesten Asylrechtsverschärfungen seit den 1990er-Jahren mit den Stimmen der SPD beschlossen. Dass die CSU der AfD begeistert hinterhermarschiert und so die CDU nach rechts treibt, zeigt einmal mehr, dass gesellschaftlicher Druck zentral für politische Veränderung ist. Dieser Druck darf jedoch nicht von rechts kommen! [Bern Riexinger]

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X.
Was nun?
Widerruft sie zwar nicht mit Worten, aber sehr wohl mit Taten?

Ich selber schließe mich erst einmal dem Landrat an: Sommer 2015 ist nicht gleich Herbst 2016:
"Ich finde diese Entscheidung noch heute richtig. Wir hatten noch das Potenzial, Menschen aufzunehmen. Und ich habe auch die humanitäre Verpflichtung unseres Landes in dieser Situation gesehen. Andere Länder haben sich der Situation entzogen, doch die Kanzlerin hat an diesem einen Wochenende [!] entschieden: Bevor die Situation in Ungarn völlig eskaliert, machen wir auf. In der Situation, in der die Menschen waren, durfte man nicht wegsehen."
Und auch:
"Man muss den Zustrom der Flüchtenden aber auch kanalisieren, und er kann kein Dauerzustand [!] sein. Ich habe auch deutlich gemacht, nochmal so ein Jahr könnten wir nicht stemmen. Das hat auch die Bundesregierung erkannt und gehandelt. Ich war nicht immer ein 150-prozentiger Merkel-Fan. Aber sie hat mich mit ihrer Haltung in der Flüchtlingskrise überzeugt, und zwar bis heute, weil sie steht - obwohl viele Menschen leichter zu erreichen sind, wenn man ihre Ängste bestärkt.

Wie Horst Seehofer agiert, das halte ich in Teilen für verantwortungslos. Wir müssen Lösungen suchen und miteinander ringen, dass der Prozess ordentlich läuft, dass wir die Flüchtlinge erfassen, dass wir wissen, wer im Land ist und vieles mehr - das muss aber auf der sachlichen Ebene bleiben, was bei ihm nicht immer der Fall ist."
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Quelle

Zugabe von Paul Michael Zulehner (* 20. Dezember 1939 in Wien)
Um zu einem verantwortlichen Handeln in dieser Welt zu kommen, lohnt es sich, mit dem Religionssoziologen Max Weber zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu unterscheiden.
  • [...] In der Politik nennt man die einen Fundis, weil ihnen an den Idealen gelegen ist,
  • und die anderen Realos, die um eine schrittweise Annäherung an die Ideale ringen.
Beide lassen sich voneinander nicht trennen. Es herrscht aber zwischen beiden ein spannungsgeladenes Verhältnis, dem sich die katholischen Bischöfe auf der Familiensynode 2015 mit dem „Gesetz der Gradualität" angenähert haben.
  • Die Gesinnung umtanzt das Ideal,  
  • die Verantwortung versucht, sich diesem in kleinen Schritten anzunähern.
  • Die Gesinnung gibt die Orientierung ab, 
  • die Verantwortung schaut nach zumutbaren und gangbaren Schritten aus

    Wer sich nur an einem Ideal orientiert, neigt zum Alles oder Nichts. Bei ihm erweist sich das Ideal als destruktiv.
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