Samstag, September 10, 2016

Flüchlinge? Abschiebungen und Integration. Und Rumpelstilzchen.

"Gegenwärtig(!) kommen täglich noch etwa 100 – einhundert – Flüchtlinge nach Deutschland.
Um die von der CSU geforderte Obergrenze von 200.000 zu erreichen, müsste man um zusätzliche Hilfsbedürftige werben. Deutschland hat inzwischen eines der restriktivsten Asylgesetze der Welt."
[Bettina Gaus, 10.9.2016]
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Schwäbisches TAGBLATT TÜBINGEN, ebenfalls am 10.9.2016:
Herr Palmer, vor einem Jahr haben Sie Angela Merkels "Wir schaffen das" widersprochen und gesagt "Wir schaffen das nicht". Hat Tübingen es geschafft ?

Boris Palmer: Ja, eindeutig. [...] Erstens sind die Zugangszahlen auf Null zurückgegangen - es kommen keine neuen Flüchtlinge mehr in den Kreis und in die Stadt. Das heißt, wir können uns um die kümmern, die schon da sind und werden nicht mehr jeden Tag mit der Herausforderung neuer Flüchtlingsunterbringung konfrontiert. [...] 
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Anfang des Jahres 2016 (im Januar) kamen noch etwa 2000 Flüchtlinge pro Tag,
im März - seit dem EU-Türkei-Pakt 185 im Durchschnitt (n24-tv),
im April 181 (focus) ...
(Es wird vielleicht nicht so bleiben.)

Im ersten Halbjahr 2016 ist die Zahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge um 124.000 gestiegen. Der Anstieg ist weit geringer als 2015, als die Zahl um insgesamt 620.000 stieg.
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"Durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet" fühlt sich aktuell wohl 1/3 der Deutschen.
(So die aktuelle "Mitte-Studie" Die enthemmte Mitte der Uni Leipzig vom Juni 2016)

Annette Treibel ist
Professorin für
Soziologie an
der PH Karlsruhe
Da helfen keine Zahlen, es ist ein Gefühl der Bedrohung selbst dort, wo es kaum Flüchtlinge gibt wie in Meck Pomm: Es sind zwar keine oder kaum Flüchtlinge im Lande zu sehen - aber sie könnten ja auch zu uns kommen und uns bedrohen.

Vielleicht ist es auch eine Verschiebung der Angst, eine Konzentration mehrerer realer und berechtigter Ängste auf einen Punkt: Die Fremden:

Der Angst vor Altersarmut, vor Verlust des Arbeitsplatzes, davor dass die Kriege uns imer näher kommen,  dass meine Ersparnisse bei den Banken nicht mehr sicher aufgehoben sind, dass sie durch Negativ-Zins sich eines Tages in Luft auflösen werden. ... 

Alle diese Ängste werden konzentriert, gebbündelt und fokussiert und auf die Flüchtlinge geschoben, denn sie sind sichtbar, anfassbar, mit Händen greifbar, während die anderen Ängste eher diffus sind und nicht greifbar sind. Gegen Flüchtlinge hilft: Abschieben, Zäune und Mauern bauen. Da kann man, da kann sogar ich etwas tun, ihnen ein Bein stellen, wenn sie daher kommen - so wie diese ungarische Kamerafrau das 2015 an der Grenze zu Serbien tat - mir notfalls einen Knüppel besorgen und selber draufhauen oder die Flüchtlingsunterkunft anzünden, bei der Wahl ein Kreuz bei der AfD machen. - Da gibt es viele Möglichkeiten. 
Aber was tue ICH
gegen den Negativ-Zins, gegen die drohende Altersarmut, gegen die kleine Rente, gegen meinen Niedriglohn, gegen den potenziellen oder schon erfolgten Verlust des Arbeitsplatzes, gegen den Zerfall Europas, gegen die schon viele Jahre anhaltende Reallohn-Senkung selbst für ordentlich verdienende mittlere und höhere Beamte und FacharbeiterInnen, gegen die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich? - Da bietet mir niemand eine einfache Lösung an, da hilft kein Knüppel und keine Mauer.  
Märchenbuch 1937
Vielleicht ist auch das Thema verfehlt,
wenn wir uns von morgens bis abends mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigen oder beschäftigt werden durch die Nachrichtensendungen. Und durch die scheinbar so einfachen Lösungen (Knüppel aus dem Sack, Obergrenzen, die Heilge Nation ...) der AfD in die Irre geleitet. Währenddessen tanzt Rumpelstilzchen im Wald und singt:
"Oh wie schön, dass niemand weiß, dass ich ...heiß".

Märchenbuch 1937
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[wikipedia]

Und was ist der Name des heutigen Rumpelstilzchens?
Man vermutet:
  • Falsch ist:  "Flüchtings-Krise"; das ist wie "Kunz" oder "Heinz". 
Richtig könnte sein:
  • Neokapitalismus
  • Deregulierung der Wohnungsbau-Politik
  • Deregulierung der Banken-Politik
  • "DIESE Wirtschaft tötet"
  • ...
Wenn Sie das Richtige treffen, wird Rumpelstilzchen sich vor Wut zerreißen und alles wird gut werden. :-)
Quelle
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Trotzdem ein paar Zahlen:
Abschiebungen.

USA:
Präsident Obama hat in seiner Amtszeit [Beginn 20. Januar 2009 bis heute] die Rekordzahl von mehr als 2,7 Millionen Menschen abgeschoben. (Das wären dann etwa 360.000 pro Jahr im Durchschnitt bei etwa 322 Millionen EinwohnerInnen, was auf Deutschland mit seinen 82 Millionen EinwohnerInnen übertragen gut 90.000 Abschiebungen entsprechen würde.

Deutschland 2015: 
"Die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland ist gestiegen, 2015 gab es doppelt so viele wie 2014. Aber dennoch waren es im vergangenen Jahr nur 20.888 Menschen, die meisten von ihnen vom Balkan. Nur neun Migranten wurden 2015 nach Afghanistan zurückgeschickt, zwei in den Irak und niemand nach Syrien.
Aber der Kurs, Menschen davon zu überzeugen, dass es besser sei, freiwillig zu gehen oder noch besser erst gar nicht zu kommen, hat größere Erfolge gezeigt. 2015 kehrten so 37.220 Menschen aus freien Stücken nach Hause zurück, hauptsächlich auf den Balkan. [Macht zusammen ca. 58.000 in 2015].
Zugleich wurde aus dem Zustrom der Migranten aus diesen Ländern ein Rinnsal." [Handelsblatt] 


Deutschland 2016
»Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will die Zahl der Abschiebungen und freiwilligen Ausreisen abgelehnter Asylbewerber trotz Höchstwerten weiter steigern. Mit dem Anstieg sei er zwar zufrieden, sagte de Maizière am Mittwoch in Berlin. „Das ist gut, aber es ist noch nicht gut genug.“ Wenn die bisherige Entwicklung weitergehe, seien bis zum Jahresende [2016] insgesamt 90.000 bis 100.000 Abschiebungen und freiwillige Rückführungen zu erwarten.« [Wirtschaftswoche WiWo]

Baden-Württemberg
"Mitte Juli 2016 hat die Polizei im Kreis Ludwigsburg eine Ermittlungsgruppe für Asylbewerber, die mehrfach kriminell wurden, eingerichtet,die „Ermittlungsgruppe Mehrfachtäter Zuwanderung“ beim Polizeirevier Bietigheim-Bissingen.
Diese vierköpfige Ermittlungsgruppe befasse sich speziell mit ausländischen Personen, die aus einem klassischen Herkunftsland von Asylsuchenden in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Ludwigsburg einen festen oder vorübergehenden Aufenthaltsort oder Wohnsitz haben und in einem oder mehreren Deliktbereichen innerhalb von sechs Monaten mehrfach straffällig geworden sind. [...]"  [Südwestpresse]

Anwesende in Deutschland:



Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gibt es einen enormen Rückstau,
mit rund
  • 610.000 Menschen, die auf eine Bearbeitung ihres Asylantrags warten – 
  • oder darauf, überhaupt einen stellen zu können.

Demnach lebten Mitte 2016 1,23 Millionen Menschen 
  1. asylberechtigt oder
  2. mit Schutz nach der Genfer Konvention oder
  3. einem laufenden Asylverfahren
  4. oder einer Duldung 
in Deutschland. Hinzu kommen noch 150.000 Menschen, die zwar 
  • bei der Einreise registriert wurden, 
  • aber noch keinen Asylantrag stellen konnten. 
Insgesamt sind das 1,38 Millionen Menschen

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„Die Abschottungs- und Abschreckungspolitik der Bundesregierung und der EU
trägt grausame Früchte“, kommentierte die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke die Zahlen. „Vor allem durch die Abriegelung der Balkanroute und den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal haben Schutzsuchende kaum noch eine Chance, die EU zu erreichen.“
Andere werden sagen:  „Die Abschottungs- und Abschreckungspolitik der Bundesregierung und der EU trägt viel zu wenig Früchte". 

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  • Die größte Veränderung im ersten Halbjahr war, dass mehr als 150.000 weitere Menschen inzwischen als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden. Deren Zahl beträgt inzwischen 365.000, mehr als zwei Drittel sind Syrer oder Iraker. 
  • Asyl nach dem Grundgesetz bekommen derweil kaum noch Menschen:
    Die Zahl der Asylberechtigten stieg in sechs Monaten um 35. Die Menschen, die nach dem Grundgesetz geschützt werden, kommen vor allem aus der Türkei und aus dem Iran. 
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Insgesamt erwartet das BAMF für dieses Jahr [2016] 250.000 bis 300.000 neu einreisende Flüchtlinge

Diese können allerdings nicht einfach zu der Zahl der Flüchtlinge bis 2015 hinzugezählt werden, da viele Menschen regelmäßig Deutschland auch wieder verlassen: Beispielsweise,
  • weil sie abgeschoben werden 
  • oder selbst ausreisen.
  • Oder sie gelten nicht mehr als Flüchtlinge, weil sie eingebürgert werden oder Deutsche heiraten. 
Im vergangenen Jahr wurden viele auch schlicht doppelt gezählt.
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Alt-Deutsch und Neu-Deutsch in Deutschland
    • 20% der in Deutschland lebenden Menschen haben einen Migrations-Hintergrund.
    • Baden-Württemberg hat einen Anteil von 28%.
    • In Stuttgart liegt der Anteil bei Kindern und Jugendlichen mit Migrations-Hintergrund deutlich über 50%. 
      Prof. A. Treibel (Bild: Campus-Verlag)
    • Davon sind manche Deutsche nach der Staatsangehörigkeit, manche nicht.
    • Es gibt noch keine klare Begrifflichkeit. Für die, sie schon seit Generationen in Deutschland leben, gibt es z.B. den Begriff "Alte Deutsche" bzw. "Neue Deutsche" für die, die aus Einwanderer-Familien stammen und sich mit Deutschland mehr oder weniger identifizieren (wie das auch für die "Alten Deutschen" gilt. Es gibt auch unter den Alten Deutschen/ Bio-Deutschen/ Autochtonen Deutschen Widerstand gegen die Markierung als Deutsch. (Treibel) Manche identifizieren sich eher z.B. mit Europa, fühlen sich als Europäer oder Weltenbürger oder Schwabe ...
    • Wir sind in einer Übergangsphase in einem Land, das zum Teil widerwillig, zum Teil selbstwewusst zu einem Einwanderungsland geworden ist. (Treibel) Das ist aber im Alltag noch nicht selbstverständlich, obgleich es in der Wissenschaft schon 30 Jahre nicht mehr diskutiert wird.
    • Das Wort "Überfremdung" war in den 90er Jahren schon einmal verbreitet. 1993 wurde es zum "Unwort des Jahres" gewählt. "Der Vorzug eines etwas höhren Lebensalters, den ich auch habe, bietet die Möglichkeit, auf ene größere Zeitstrecke zurück zu blicken. [..] es gibt so Wellenbewegungen. Es gab eine sehr große Überfremdungs-Debatte in den 80er Jahren, da gab es ein Manifest von Professoren, »Heidelberger Manifest« (17. Juni 1981), die sich gegen die »Unterwanderung des Deutschen Volkes« augesprochen haben." (Treibel)
    • Was ist Deutsch-Sein? "Wenn ich das [wissenschaftlich fundiert] beantworten könnet, wäre ich Nobelpreis-verdächtig." (Annette Treibel) "Es gibt im Grunde bei den Fachleuten keine eindeutige Definition davon."
    • Migrations-Forschung: "Integrierte EinwanderInnen identifizieren sich nicht zwingend mit Deutschland, sondern [beispielweise Cem Özdemir] mit Mannheim oder Hamburg oder einem Stadtteil in Berlin." Und/oder: Gedicht an einer Hauswand in Berlin:
    Berlin Wedding - September 2016 (Foto: Alex)

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