Donnerstag, Januar 26, 2017

"Den Flüchtlingen wird alles in den Arsch geschoben"



"... als ich [deutsch] alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern in diese Stadt gekommen bin, hat mir niemand geholfen - kein Staat, kein Mensch, lange habe ich keine Wohnung gefunden. Dann nur eine total überteuerte, die mir meine Eltern bezahlt haben!

Somit bin ich da sehr kritisch was den Staat anbelangt! Plötzlich werden Wohnungen [für Ausländer, Flüchtlinge, Asylanten ... ] gebaut, wird geholfen, etc..... 
Mit den eigenen Leuten in Not sieht das anders aus. ..."

Drei oder vier mögliche Kommentare

I.
Ein Bekannter antwortete spontan auf diese Aussage:
"Dann geh doch nach Syrien, lass dort deine Schule und dein Haus ausbomben, deinem Vater ein Auge ausschießen und dich dann von ihm über das Mittelmeer im Schlauchboot nach Deutschland schicken, damit wenigsten jemand von der Familie überlebt! - Dann bekommst du endlich auch alles in den Arsch geschoben."
Und:
"Es ist reiner Zufall, dass du in Deutschland geboren bist. Du hättest auch in Syrien, Afghanistan oder im Irak auf die Welt kommen können. - Wie würdest du das dann sehen?"
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« [...] hier ist man sofort bei der zweiten großen Eigenschaft unseres ökonomischen Systems. Es tendiert dazu, soziale Widersprüche extrem zu verschärfen. Heute besitzen die 85 reichsten Menschen, nach anderen Berechnungen sind es gar nur acht, so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, also 3,5 Milliarden Menschen, zusammen.

Ein Drittel der Weltbevölkerung lebt nach wie vor von Landwirtschaft. Weil sich Kleinbauern auf dem Weltmarkt nicht gegen die industrielle Agrarproduktion behaupten können, verlieren Hunderte Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage. Wer sich ein realistisches Bild von den Migrationsbewegungen der Gegenwart machen will, dem sei ein Besuch in einem der Mega-Slums des globalen Südens empfohlen. In den Elendsvierteln von Mumbai, Kinshasa oder Bogotá kann man ermessen, wie wenig unsere Weltwirtschaft trotz des produzierten Reichtums in der Lage ist, auch nur elementarste Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Milliarde Menschen leben heute als "Überflüssige" in Slums.» [Raul Zelik]
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II. 
Pema Chödrön, *1936 als Deirdre Blomfield-Brown in New York City, buddhistische Nonne und Schriftstellerin, die erste Amerikanerin, die zur Leiterin eines tibetisch-buddhistischen Klosters ernannt wurde, würde vielleicht mit dieser Geschichte antworten:
«Eine Freundin erzählte mir einmal von ihren betagten Eltern in Florida. Sie leben in einer Gegend, wo es viel Armut und Not gibt, und Gewalt ist deshalb eine durchaus ernstzunehmende Bedrohung. Ihre Weise, mit dieser Bedrohung umzugehen, besteht darin, dass sie in einer von Mauern umgebenen Siedlung leben, die von Wachhunden und elektrischen Zäunen geschützt wird. Natürlich hoffen sie, dass dort nichts Beängstigendes eindringen kann.
Bedauerlicherweise fürchten sich die Eltern meiner Freundin immer mehr, die schützenden Mauern zu verlassen. Sie würden ja gern zum Strand oder auf den Golfplatz gehen, aber sie haben Angst davor, sich frei zu bewegen. Jetzt bezahlen sie sogar jemanden dafür, dass er die Einkäufe für sie erledigt, aber ihr Gefühl der Unsicherheit nimmt ständig zu.
In letzter Zeit haben sie eine Paranoia gegenüber den Menschen entwickelt, die durch das Tor eingelassen werden: Leute von irgendeinem Kundendienst, Gärtner, Klempner, Elektriker. Aufgrund ihrer Isolation werden sie zunehmend unfähiger, mit einer unvorhersehbaren Welt umzugehen.
Dies ist eine sehr passende Analogie für die Funktionsweise des Ego. Wie Albert Einstein sagte, liegt die Tragik der Tatsache, dass wir uns als von allen anderen getrennt erfahren, darin, dass diese Täuschung zu einem Gefängnis wird.» [Quelle: Pema Chödrön. Geh an die Orte, die du fürchtest. Buddhas Weg zur Furchtlosigkeit in schwierigen Zeiten]
III.
Der deutsche Sozialphilosoph Hans Joas schreibt zum Thema:
Was hält eine Gesellschaft dann zusammen?
Joas: «Die Menschen müssen die Gesellschaft als gerecht erleben.
Gerechtigkeit ist als Wert in allen Kulturen vorhanden. Dort, wo der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist, muss also etwas getan werden, um das Gerechtigkeitsempfinden wieder herbeizuführen. Zum Beispiel ökonomische Umverteilungen oder bessere Partizipationsmöglichkeiten. Ich finde beispielsweise die Vermögensverteilung in Deutschland skandalös. [...]
Jeder Notleidende ist ein Mensch und bedarf der Hilfe. -
Weltgemeinschaft, finde Lösungen! [...]

Ein einzelner Staat kann ein Problem dieser Dimension nicht lösen. Und das Maß, in dem dieser einzelne Staat das Problem lösen soll, muss innerhalb dieses Staates durch demokratische Willensbildung beschlossen werden. [...]
Das Resultat muss durch einen politischen Prozess erzielt werden. Wenn das nicht passiert, ist das schlecht für die Integration. Und die Vertreter der Kirchen werden entweder als naiv oder als moralisch-arrogant erlebt. Das löst dann eine Rückkoppelung aus, im Sinne einer Immunisierung nach dem Motto:
Du weißt ja gar nicht, wie naiv du bist, ich höre dir gar nicht mehr zu.
Oder: Warum denkst du eigentlich nur an Aishe und Ahmed und nicht an Henri und Doreen aus Brandenburg, deren Arbeitsplätze im niedrig-qualifizierten Bereich gefährdet werden? [...]
Die USA konnten immer eine liberale Migrationspolitik haben, weil mit der Einwanderung kaum sozialstaatliche Leistungen verknüpft sind. In Deutschland aber oder in Skandinavien sind damit enorme sozialstaatliche Leistungen verknüpft. Und die stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung. Daher haben die Schweden klar und deutlich gesagt: An einem bestimmten Punkt ist eine Grenze erreicht. [...]
Man kann seriös argumentieren: Diese Grenze ist jetzt noch überhaupt nicht erreicht. Aber man kann nicht ernsthaft fordern, die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens, der ja kaum noch bewohnbar ist, aufzunehmen. Oder die hundert Millionen Bangladeschis, die durch den steigenden Meeresspiegel nicht mehr in Küstenregionen werden leben können. [...]» [Dieser Text-Auszug stammt von der Webseite des Internetauftritts von Publik-Forum .]
IV.
Und noch eine zweite und letzte Geschichte dazu:
«Das Große Mitgefühl ist unserer Fähigkeit, das Leiden, das wir mit anderen Menschen gemein haben, mitzuempfinden. 
Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, schotten wir uns ständig gegen dieses Leiden ab, weil es uns Angst macht. Wir errichten Schutzmauern aus Meinungen, Vorurteilen und Strategien — Schranken, die auf der tiefen Furcht, verletzt, zu werden, aufbauen.
Diese Mauern werden noch durch alle möglichen Emotionen verstärkt: Zorn, Begehren, Gleichgültigkeit, Eifersucht und Neid, Arroganz und Stolz. […]

Eine junge Frau schrieb mir einmal, sie habe sich selbst gefunden, als sie sich in einer kleinen Stadt von einer schreienden und johlenden Menge umgeben sah, die drohten, sie und ihre Freunde mit Steinen zu bewerfen, weil sie Amerikaner waren. Natürlich hatte sie fürchterliche Angst. Aber was dann geschah, ist interessant.
Plötzlich identifizierte sie sich mit jedem Menschen in der Geschichte der Menschheit, der je beschimpft und gehasst worden ist.
Sie begriff, was es heißt, nur aus einem einzigen Grund verachtet zu werden: weil man zu einer ethnischen Gruppe gehört, einer bestimmten Rasse, weil man ein bestimmtes Geschlecht oder bestimmte sexuelle Vorlieben hat. Irgendetwas ihn ihr brach auf, öffnete sich weit, und sie stand plötzlich in den Fußstapfen von Millionen von unterdrückten Menschen und sah die Dinge aus einer neuen Perspektive. Sie begriff sogar, dass sie in ihrem Menschsein mit den Menschen eins war, die sie hassten. Dieses Gefühl einer tiefen Verbundenheit, der Angehörigkeit zur selben Familie, ist Bodhichitta.» [1] (Pema Chödrön a.a.O.)
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Eine Idee davon, wo die Reise hingehen müsste

«Es gibt [...] eine Reihe von Debatten, die miteinander verknüpft werden müssten. Und anders als häufig unterstellt wird, besitzen wir durchaus eine Idee davon, wo die Reise hingehen müsste. Die meisten von uns werden vermutlich zustimmen,
dass mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern,
eine Verkürzung der Arbeitszeit,
eine gerechtere Verteilung des Reichtums,
die ökologische Umgestaltung unserer Lebensweise,
eine Stärkung der öffentlichen Grundversorgung
sowie eine tiefgreifende Demokratisierung aller unserer Lebensbereiche,
also auch der Arbeitswelt,
wünschenswert wären.
Und zumindest viele von uns wären wohl auch einverstanden, dass die Stärkung demokratischen Gemeineigentums - wie es in Energiegenossenschaften oder kommunalen Stadtwerken aufblitzt - eine sinnvolle Maßnahme in diesem Zusammenhang wäre.» [Raul Zelik]


[1] In der buddhistischen Lehre ist Bodhichitta das Streben nach Erleuchtung (Bodhi). Bodhichitta ist dabei die Entschlossenheit, das Ziel der Erleuchtung  zum Wohle aller Wesen zu erlangen.



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