Montag, Dezember 18, 2017

Der EU-Werbe-Roman: "Die Hauptstadt" von Robert Menasse

Heute Morgen beim Zähneputzen hörte ich irgendwo im Radio, das Buch "Die Hauptstadt" sei der "Roman des Jahres". Oder so.
Ich hatte es gerade zu Ende gelesen.

Nein, Nein. Das ist ganz bestimmt nicht der Roman des Jahres. Da habe ich dieses Jahr schon viel bessere gelesen, die mich in den Bann zogen. Sie kennen sicher diese Romane, bei denen man auf Seite 300 denkt: "Mein Gott! Nur noch 200 Seiten! - Was soll ich mit meinem Leben anfangen, wenn dieser Roman zu Ende ist!?"

Und warum ist es NICHT der Roman des Jahres?

a) "Man" kann ihn nur am Stück lesen. Das tut mann/frau aber nicht, weil sooo spannend ist der Roman nun auch wieder nicht.

b) Warum muss man ihn am Stück lesen? Dieser Konfetti-Roman, der irgendwann vielleicht zum Mosaik wird, ist doch recht kompliziert. Man muss sich anstrengen.  - Das Gesamt-Mosaik stellt sich erst dann ein, wenn "man" den Roman am Stück liest. Sonst geht leicht der Faden verloren, und man muss noch einmal von vorne, im Kapitel 1 anfangen, um den Faden zu suchen und zu finden.

c) Ich vermute fast, der Aufenthalt in Brüssel wurde dem Autor von der EU-Kommission gesponsert? Wenn nicht, sollte die Kommission im Nachhinein ein paar Euro springen lassen. Denn: Das Buch ist eine Werbe-Roman für die EU (im Umkehrschluss: Gegen Nationen). - Das mag ja gut gemeint und richtig und ehrenhaft sein, (aber ich bin kein Politiker und halte mich da mal raus).

d) Ältere LeserInnen wird der Roman in die Depression ziehen.

Warum? Zitate: 
Professor Erhard [frisch im Ruhestand] war zwei Tage früher gekommen um, wenn er schon nach Brüssel eingeladen war, auch etwas von der Stadt zu sehen und nicht nur die ganze Zeit in einem geschlossenen und klimatisierten Raum zu sitzen. Er hatte in Wien keine Verpflichtungen und keine Familie. Er war in dieser Hinsicht in der schrecklichsten Situation in der man sich in seinem Alter befinden konnte: er war frei. […]
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Schwester Josephine [Altenheim in Brüssel] machte sich Sorgen um David de Vriend [Holocaust-Überlebender] . Sie war eine gerechte Frau, die alle ihre »Schützlinge«, wie sie sie nannte, möglichst gleich zu behandeln versuchte, ob sie ihr sympathisch, unangenehm oder gar widerlich waren, ob sie sich kommunikativ oder abweisend gaben, freundlich oder aggressiv. Josephine fand, dass sie alle gute Gründe dafür hatten, so zu sein, wie sie sich hier zeigten, biographische Gründe, die in diesem Haus deutlich zutage traten, wenn sie begriffen, dass sie in der Maison Hanssens nichts anderes mehr zu tun hatten, als ihrem Lebensende entgegenzudämmern, während sie noch so taten, als wären sie Gäste in einem Kurhotel.
Alle, die sie betreute, waren am Ende ihres Lebens, aber mit ihrem Leben noch nicht fertig. Das war Josephines Erfahrung, ihre Einsicht. Sie stellte sich jeden Tag vor, was das bedeutete. Für jeden Einzelnen. Und da waren sie alle gleich, und in dieser Gleichheit unterschied sie nicht mehr zwischen pflegeleichten und lästigen Schützlingen, sympathischen und unsympathischen.
David de Vriend hatte nie das Bedürfnis gezeigt, mehr als nötig mit ihr zu kommunizieren. Und wenn er sich für etwas bedankte, dann klang das mehr nach einer Verabschiedung als nach einer Bezeugung von Dankbarkeit.
Man konnte also nicht sagen, dass de Vriend ein Schützling war, den man lieben musste und dem man daher besonders liebevoll seine Aufmerksamkeit schenken wollte. Und doch fand Josephine, dass sie eine besondere Verantwortung für Herrn de Vriend hatte.
War es wegen der Nummer auf seinem Arm? Sie fragte sich das und verbot sich zugleich diesen Gedanken. Sie war gerecht, zu jedem gleich aufmerksam. Jedem hatte das Leben mitgespielt. So stürmte sie mit den besten Absichten in de Vriends Zimmer, mit zwei Zeitungen, und schrie: Sie kommen nie ‑ De Vriend saß in seinem Fauteuil, nur mit einer Unterhose bekleidet.
Josephine schrie: Ich habe Sie schon seit Tagen nicht mehr im Gemeinschaftsraum gesehen, wo die Zeitungen liegen. Aber wir müssen doch Zeitungen lesen, nicht wahr, Herr de Vriend? Oder wollen wir nicht mehr wissen, was in der Welt los ist?
[...]
David de Vriend nahm die Zeitung, starrte sie an, dann begann er langsam zu blättern, bis er plötzlich gebeugt in\ die Zeitung starrte. Wollen wir einen Artikel gemeinsam lesen? Interessiert Sie ‑
De Vriend stand auf, ging durch das Zimmer, ging hin und her, schaute, suchte, Schwester Josephine sah ihn verwundert an: Was suchen Sie?
Meinen Notizblock. Haben Sie nicht gelesen? Todesfälle. Ich muss einen Namen, schon wieder einen Namen aus meiner Liste streichen.

e) Und das Wichtigste: 
Die Haupt-These von Menasse stimmt nicht: Die EU, der Anfang der EU als  Zusammenschluss von love and peace.
Professor Erhardt (siehe oben) hält in dem Roman eine flammende Rede gegen Nationalismus und für die EU. Diese wirkt für sich irgendwie überzeugend und vielleicht hat er ja recht.
Es fehlt die Antithese, und das ist seine Schwäche, die Schwäche des Autors und des Romans.  Der Roman wird zum Propaganda-Roman: Es gibt viel Verständnis für die einzelnen Menschen, die für die EU (oder auch für ihre eigene Lobby, zum Beispiel die SchweinezüchterInnen)  in Brüssel arbeiten [daher läuft ja im Brüssel des Romans dieses ver(w)irrte Schwein herum].

Quelle

Der große politische Zusammenhang fehlt:
1950-1985:
Aufstieg und Stagnation
Der Beginn der europäischen Integration

Mit der Einigung Europas sollte ein für alle Mal die verhängnisvolle Feindschaft unter den großen europäischen Mächten — insbesondere die zwischen Deutschland und Frankreich — beendet werden. Es sollte endlich vorbei sein mit den schrecklichen Kriegen auf dem Kontinent.

Dies wurde die Kernbotschaft der europäischen Integration, und an sie wird regelmäßig in ihren Krisen erinnert. So 2006, ein Jahr nach der Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrags: »Das ist vor allem und nach wie vor die Friedensbotschaft. Gehen sie auf einen Dorffriedhof, schauen sie sich die Gräber aus den Weltkriegen an, und sie wissen, was ich meine. Diese Botschaft ist nicht mehr selbstverständlich, und die Jungen kennen sie nicht mehr. Europa darf sich nicht nur wirtschaftlich begründen. Europa war früher ein Herzthema — >nie wieder Krieg<.«

Auch in der Euro-Krise wird diese Argumentation bemüht.
In einem Interview mit sechs europäischen Tageszeitungen Ende Januar 2012 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Wenn wir Europa nicht hätten, würde vielleicht auch unsere Generation gegeneinander Krieg führen.«
Mit der Gleichsetzung »Europa bedeutet Frieden« schirmt man sich so gegen jede Kritik an der konkreten Form der europäischen Integration ab. Zugleich instrumentalisiert man die berechtigte Friedensliebe der Menschen zur Rechtfertigung für alles und jedes in der EU.

Dieser Appell an die Sehnsucht nach Frieden führt in die Irre.

Bei der europäischen Integration ging und geht es nicht um die Verhinderung eines Krieges. »Tatsächlich war 1950, als der französische Außenminister Robert Schuman den Vorschlag machte, zwischen Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg eine >Gemeinschaft für Kohle und Stahl< zu begründen, weder der Friede in Westeuropa in Gefahr noch irgendein europäisches Land zum Krieg fähig. (...) Die europäische Integration bis hin im Europäischen Union fand unter den Fittichen des amerikanischen Adlers innerhalb der NATO statt. (...) Die Friedensrhetorik im Zusammenhang mit der europäischen Integration bezeichnet einen Gründungsmythos im deutsch-französischen Verhältnis und einen seit den sechziger Jahren fortgesetzten Versuch, sich gegenüber Amerika als selbständige Kraft, als >europäische Säule der Allianz<, und in der Welt als >Friedensmacht< darzustellen. Dabei kam es zu vielen politischen Verrenkungen. «
Nach einem weiteren, ebenfalls ständig am Leben gehaltenen Mythos sei die europäische Integration aus dem Geist des antifaschistischen Widerstands hervorgegangen. Zwar gab es — vor allem in Italien und in Frankreich — am Ende des Zweiten Weltkriegs Widerstandskreise, die eine schnelle europäische Einigung forderten. In Frankreich gehörte der Schriftsteller Albert Camus dazu und Italien der sozialistische Publizist Altiero Spinelli, in Deutschland der Widerstandskreis des 20. Juli und die befreiten KZ-Häftlinge, die das Buchenwalder Manifest vom 13. April 1945 verfassten. ....
Okay.
Lesen Sie beide Bücher und andere dazu. Und bilden Sie sich selber eine Meinung.

Quelle

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